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Psychologie im Arbeitsleben

HRM in Pandemiezeiten: Probleme, die an die Oberfläche treten und deren Lösungen

von Letizia Tschetsche  (2. Semester Master Psychologie – Human Performance in Sociotechnical Systems, Technische Universität Dresden)

Die Covid-19-Pandemie hat einige Fragen zur bisherigen HR-Praxis ausgelöst. Diverse HR-Modelle haben dazu beigetragen, dass Flexibilität und Wettbewerbsfähigkeit an erster Stelle stehen und der Wert von Arbeitnehmer:innen von diesen Zielen abhängig ist. Diese Situation muss von HR-Praktiker:innen anerkannt und zukünftig diskutiert werden, um möglichen Fehlentwicklungen entgegenzuwirken und Lösungswege zu finden. Der vorliegende Blogartikel beleuchtet vergangene HR-Praktiken, die zu der widersprüchlichen Situation beigetragen haben, den Marktwert einzelner Arbeitnehmer:innen als gering einzuschätzen und gleichzeitig deren bedeutende Relevanz für die Gesellschaft betonen. Zudem liefert der Blogbeitrag Denkanstöße für die Zukunft.

HRM-Einflüsse und Auswirkungen im ersten Pandemiejahr

Deutschland, 2020: Die Medien werden durch die Covid-19-Pandemie bestimmt. Täglich werden aktuelle Infektionszahlen und neue Regelungen zur Eindämmung der Infektionen bekanntgegeben, weshalb auch Arbeitnehmende mit veränderten Arbeitsbedingungen konfrontiert werden. Eine dieser Regelungen sieht vor, dass Arbeitgeber:innen ihrer Belegschaft die Möglichkeit zur Arbeit von zuhause anbieten müssen. Dabei betonen Butterick & Charlwood (2021) jedoch, dass es signifikante Unterschiede gibt, wie Arbeitnehmende die Covid-19 Pandemie erleben. Während einige Menschen von zuhause mit gleicher Bezahlung weiterarbeiten können, sind andere Menschen durch Kurzarbeit vom Einkommensverlust betroffen oder ihnen droht sogar der Arbeitsplatzverlust. Besonders betroffen von den negativen Bedingungen sind dabei laut Butterick & Charlwood (2021) Niedriglohnbeschäftigte in essenziellen Bereichen wie der Lebensmittelproduktion und dem Lebensmittelverkauf, sowie Mitarbeitende im Gesundheitswesen.

Deutschland, Juni 2020: Die Medien werden durch einen Skandal, verbunden mit der Covid-19-Pandemie, bestimmt. Bei einem behördlich angeordneten Corona-Massentest werden im Schlachtbetrieb Tönnies knapp 1500 Mitarbeiter:innen positiv auf das Coronavirus getestet. Infolgedessen geraten die Arbeitsbedingungen im Unternehmen – vor allem die hohe Anzahl von Niedriglohnbeschäftigten aus dem osteuropäischen Ausland und deren Unterbringung in Sammelunterkünften – in Kritik. Zudem wird das Unternehmen der fahrlässigen Körperverletzung sowie des Verstoßes gegen das Infektionsschutzgesetz bezichtigt (Hecking & Gontek, 2020). In einem Interview verweist ein Sprecher des Unternehmens auf die Anweisung, trotz Lockdown weiterzuarbeiten, weshalb ein erhöhtes Infektionsrisiko für die Mitarbeitenden verursacht wurde (Deutsche Presse-Agentur, 2020). Dies wirft die Frage auf, welche HRM-Praktiken zu dieser paradoxen Situation geführt haben: Wie kam es zu diesen großen Unterschieden zwischen dem geringen Marktwert dieser Arbeitnehmer:innen und ihrem hohen Wert für die Gesellschaft?

In diesem Blogartikel soll deshalb ein Blick in die Vergangenheit und ein Blick in die Zukunft geworfen werden. Erstens soll die Frage beantwortet werden, welche Praktiken im HRM in der Vergangenheit dazu geführt haben, dass heutzutage diese Ungleichheiten in der Arbeitswelt existieren. Zweitens sollen erste Empfehlungen gemacht werden, wie HRM-Expert:innen diesem Problem in Zukunft begegnen können.

HR-Modelle, die den Wert von Arbeitnehmer:innen in der heutigen Arbeitswelt bestimmen

Die während der Pandemie deutlich gewordenen Arbeitsbedingungen resultieren aus einer Entwicklung, deren Ursprung im letzten Jahrhundert liegt. Butterick & Charlwood (2021) sehen dabei besonders zwei Modelle als wichtige Treiber dieser Entwicklung an: das Flexible Firm Model (Atkinson, 1984) sowie das Human Resource Architecture Model (Lepak & Snell, 1999).

Das Flexible Firm Model (Atkinson, 1984) beschreibt die Notwendigkeit, die Bedeutung von Mitarbeiter:innen für die Organisation zu unterscheiden, um die Flexibilität der Belegschaft zu erhöhen und eine klare Hierarchie zu schaffen. Atkinson (1984) unterscheidet dabei zwei Arten von Beschäftigten: die „core group“ und die „peripheral group“.Die core group meint dabei die Beschäftigten, die aufgrund ihrer hohen Qualifikationen und Erfahrungen für das Unternehmen bedeutsam sind und deshalb in Vollzeit angestellt sind. Arbeitnehmende, die der peripheral group zugeordnet werden, haben dagegen weniger Qualifikationen, weshalb sie auf dem Arbeitsmarkt leichter verfügbar sind. Oftmals werden sie in aufgabenintensiven Zeiten kurzfristig eingesetzt, sind nicht bei der Organisation selbst angestellt, sondern entstammen Subunternehmen und werden geringer bezahlt (Atkinson, 1984). Hintergrund dieser Aufteilung ist der schwankende und unvorhersehbare Markt, der eine hohe Wettbewerbsfähigkeit verlangt. Es soll zudem den Fall erleichtern, wenn ein Unternehmen aus wirtschaftlichen Gründen Personalkürzungen vornehmen muss, wobei vorrangig die Kerngruppe erhalten wird. Insgesamt wird somit die Flexibilität der Organisation gesteigert.

Abbildung 1. The flexible firm (Atkinson, 1984)


Beim Human Resource Architecture Model (Lepak & Snell, 1999) werden die Beschäftigten anhand ihres „strategic value“ und ihrer „uniqueness“ in vier Gruppen unterteilt. Ist das Wissen der Beschäftigten einzigartig und wertvoll, befürwortet das Modell langfristige und gut bezahlte Arbeitsverhältnisse. Ist das Wissen der Beschäftigten weniger wertvoll – indem entsprechende Fähigkeiten schnell angelernt werden können, wodurch viele Menschen auf dem Arbeitsmarkt verfügbar sind – empfiehlt das Modell, diese Arbeitsverhältnisse an externe Unternehmen auszulagern. Diese Arbeitsplätze gehen deshalb mit wenig Arbeitsplatzsicherheit und einem geringeren Gehalt einher (Lepak & Snell, 1999). Ziel ist, dass das effiziente Management des Humankapitals der Mitarbeiter:innen eines Unternehmens dazu beiträgt, dass das Unternehmen wettbewerbsfähig bleibt.

Abbildung 2. Human capital characteristics and employment modes (adapted from Lepak and Snell (1999) (Lepak & Snell, 2002)

Seit dem Aufkommen des HRM als interessierendes Forschungsfeld gab es somit eine sichtbare Veränderung in Richtung der strategischen Managementprozesse, wodurch das HRM genutzt wird, um Unternehmensziele zu erreichen (Paauwe & Boon, 2019). Dies wird auch in den präsentierten Modellen deutlich, da diese darauf abzielen, das Unternehmen möglichst wettbewerbsfähig zu halten.

Kritisch betrachtet werden kann hierbei die resultierende Ungleichheit der Arbeitnehmenden in Abhängigkeit der Nützlichkeit ihres Humankapitals für das jeweilige Unternehmen. Diese Situation birgt die Gefahr, dass auch Arbeitsbedingungen wie das Angestelltenverhältnis oder der Arbeitsschutz unterschiedlich zwischen Arbeitnehmendengruppen ausgeprägt sind.

Auswirkungen für HR-Praktiker:innen der Zukunft

Zusammenfassend hat der HR-Ansatz, gering-qualifizierte Arbeit zu einem auswechselbaren Produkt zu machen, welches häufig aus den Unternehmen ausgelagert werden, einen Beitrag zu dem Wert von Arbeitsnehmer:innen in der heutigen Arbeitswelt geleistet. Dieser hat Anteile, die kritisch betrachtet werden können (Butterick & Charlwood, 2021).

„Nevertheless, it is important for those of us involved in researching, teaching and practicing HRM to reflect on the ways in which what we do has contributed to making a bad situation worse so that we can do better in the future”

(Butterick & Charlwood, 2021, S. 2).

Was können HR-Praktiker:innen in Zukunft tun, um der Entwicklung, dass Arbeitnehmende aufgrund ihrer Position und Qualifikation so unterschiedliche Arbeitsbedingungen erleben, entgegenzuwirken? Wo befinden sich die Stellschrauben für eine Arbeitswelt, in der der Marktwert von Arbeitsnehmerinnen dem Wert für die Gesellschaft entspricht?
Butterick & Charlwood (2021) zeigen auf, dass es in der Covid-19-Pandemie durch politische Regelungen erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern gab. Deutschland geht sogar als Vorbild voraus – die Regelungen zur Kurzarbeit verringerten die Anzahl von Entlassungen und schützten somit viele Menschen vor der Arbeitslosigkeit (Adams-Prassl et al., 2020). Im Allgemeinen verdeutlicht dies jedoch die Notwendigkeit von nationalen Systemen und Institutionen zur Arbeitsmarktregulierung (Butterick & Charlwood, 2021), welche in Zukunft weiter ausgebaut werden sollten.
Des Weiteren sollte das HRM versuchen, neben dem strategischen Management wieder mehr den Menschen in den Fokus nehmen. Der Mensch als Arbeitskraft sollte nicht unter den unternehmerischen Zielen leiden, so wie es der Ursprung arbeitspsychologischer Praktiken postuliert. Die Arbeit sollte menschengerecht gestaltet sein. Man sollte von dem Aspekt wegkommen, dass Erfolg im Unternehmen mit Flexibilität gesteigert wird. Stattdessen sollten die Forschungsergebnisse beachtet werden, die zeigen, dass die Beachtung der menschlichen Bedürfnisse, umgesetzt durch eine sichere und menschenwürdig gestaltete Arbeitsstelle, die Arbeitsleistung und Arbeitszufriedenheit steigert und somit zum allgemeinen Erfolg des Unternehmens beiträgt (vgl. Lattmann, 1991).
Insgesamt sollte somit vermehrt an der Schaffung eines Ethik-Kodex gearbeitet werden, der durch Normen und Regeln auf Unternehmens- und auf politischer Ebene umgesetzt wird. Butterick & Charlwood (2021) betonen dabei, dass für eine erfolgreiche Umsetzung auch die dazugehörigen Kontrollinstanzen von großer Notwendigkeit sind.

Die Vergangenheit zeigt: In Zukunft muss aktiv gehandelt werden

Was sollten die nächsten Schritte sein? Am wichtigsten ist wohl der Aspekt, aktiv zu werden. Die Covid-19-Pandemie mag schlechte Arbeitsbedingungen aufgedeckt und in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt haben, bei genauerer Betrachtung fällt allerdings auf, dass diese seit vielen Jahren fester Bestandteil unseres Arbeitsalltages sind. Während einige argumentieren, dass die Covid-19-Pandemie Unternehmen dazu veranlasst hat, sich mehr mit der Fürsorge und dem Wohlbefinden ihrer Mitarbeiter:innen zu beschäftigen und Veränderungen dementsprechend automatisch geschehen werden, kritisieren andere diese Ansichtsweise stark. So appellieren Butterick & Charlwood (2021), dass die schlechten Arbeitsbedingungen lange bekannt seien und öffentliche Empörung für Veränderungen alleine unzureichend sei.

Schlussfolgernd müssen aktiv Änderungen ergriffen werden, um eine Verbesserung zu ermöglichen. Im gleichen Rahmen ist es somit auch wichtig, aktiv bei der Generierung von zukünftigen Schritten zu werden. Für Praktiker:innen ist relevant, aus ihren aktuellen Erfahrungen zu lernen, sich auszutauschen und gemeinsam Ideen zu generieren (Butterick & Charlwood, 2021). Forschende sollten ethische Aspekte in ihre Studien mit einbeziehen und die Punkte thematisieren, die Ungleichheit fördern, um Maßnahmen für die Anwender:innen abzuleiten.
Und einzelne Personen? Jede:r kann an dieser Veränderung teilhaben. Bezogen auf das Beispiel von Anfang zeigt sich, dass das öffentliche Interesse an den Arbeitsbedingungen im Tönnies-Betrieb sowohl gesellschaftliche als auch politische Folgen nach sich zog. Auch hier ist somit das „Aktiv-Sein“ von großer Bedeutung. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt somit, dass es noch Hoffnung für die Zukunft gibt.


Adams-Prassl, A., Boneva, T., Golin, M., & Rauh, C. (2020). Inequality in the impact of the coronavirus shock: Evidence from real time surveys. Journal of Public Economics, 189, 104245.

Atkinson, J. (1984). Manpower strategies for flexible organisations. Personnel Management, 16(8), 28–31.

Butterick, M., & Charlwood, A. (2021). HRM and the COVID‐19 pandemic: How can we stop making a bad situation worse? Human Resource Management Journal, 31(4), 847–856.

Deutsche Presse-Agentur. (2020, 08. Mai). Gesundheit: Tönnies: Branche nicht unter Generalverdacht stellen. FOCUS Online. Abgerufen am 3. August 2022, von https://www.focus.de/regional/nordrhein-westfalen/gesundheit-toennies-branche-nicht-unter-generalverdacht-stellen_id_11970880.html

Hecking, C. & Gontek, F. (2020, 18. Juni). Hunderte Corona-Fälle in der Fleischfabrik. Wut auf Tönnies. DER SPIEGEL, Hamburg, Germany. Abgerufen am 3. August 2022, von https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/wut-auf-toennies-a-942c155d-6740-42c6-81a1-12757468124f

Lattmann, C. (1991). Menschengerechte Arbeitsgestaltung. In C. Lattmann, B. Staffelbach, T. J. Gerpott, & C. Norek (Eds.), Die Personalfunktion der Unternehmung im Spannungsfeld von Humanität und wirtschaftlicher Rationalität (pp. 181–212). Physica-Verlag.

Lepak, D. P., & Snell, S. A. (1999). The human resource architecture: Toward a theory of human capital allocation and development. Academy of Management Review, 24(1), 31–48.

Lepak, D. P., & Snell, S. A. (2002). Examining the human resource architecture: The relationships among human capital, employment, and human resource configurations: Journal of Management, 28(4), 517–543.

Paauwe, J., & Boon, C. (2019). Strategic HRM: a critical review. In D. G. Collings, G. Wood, & L. T. Szamosi (Eds.), Human Resource Management. A critical approach (2nd ed., pp. 49–73). Routledge.

Autor: francaledermann | 22. März 2023 | 11:21 Uhr

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