EINE VERMITTLUNGSSITUATION VON LUISA FRANKE
„Du bist eingeladen, heute einen Weg zu gehen. Wir werden alle gemeinsam gehen, jeder für sich und doch als Gruppe. Wir richten unsere verschiedenen Blickwinkel auf die Stadt, die und alle verbindet, die wir täglich durchschreiten, in der wir jeden Tag Wege gehen; in der wir studieren, feiern, essen, einkaufen, Bus fahren- die wir verlassen- und zu der wir immer wieder zurückkehren.“
Für das Seminar „Von der Praxis in die Praxis“ beschritten wir, angeleitet über eine synchron abgespielte Audiospur, einen Weg vom Seminargebäude in die Dresdner Innenstadt. Dabei wurden nach und nach performative Impulse angeregt, die zum Nachdenken über den eigenen Körper im öffentlichen Stadtraum, das Zusammenwirken von vielen Körpern und die Verhältnisse von Gesellschaft und Stadt anregen sollten.
Verortung
In der Vermittlungssituation wurde ein Konzept verwirklicht, indem überwiegend eine Annäherung an performative Erfahrungen erzeugt werden sollte, ohne dabei klassischer Performance Art zu entsprechen. Den Studierenden sollten dabei zahlreiche Anregungen zum performativen Arbeiten angeboten werden, die sich auf verschiedene Unterrichtskonzepte unabhängig von Schulform oder Altersklasse übertragen lassen. Primäres Ziel der Vermittlungssituation war eine schrittweise Fokussierung auf die eigene Wahrnehmung, den eigenen handelnden Körper im Stadtraum und in der Öffentlichkeit. Dabei liegt in der „Interdisziplinarität und Komplexität von Performancearbeit und in der Zentrierung auf die Ausdruckskraft des ‚sich bewegend- handelnden Körpers‘ […] eine wichtige, wenngleich bisher unterschätzte Tendenz ästhetischer Bildungsprozesse“ (Lange/ 2002/ S.310), welche es schafft, aus den klassischen Unterrichtsstrukturen auszubrechen und „Situationen des Offenen, Unbestimmten und Subjektbezogenen“ (ebd.) zu entwickeln, in denen ästhetische Lernprozesse erst möglich werden. In der direkten Handlung liegt dabei die Chance, sich selbst (neu) zu erfahren, über Gattungsgrenzen hinweg gestalterisch tätig zu sein und Wissen interdisziplinär zu erweitern und zu vernetzen. (Vgl. ebd., S. 310f.)
Angelehnt wurde das Konzept maßgeblich an die Erfahrung mit der öffentlichen Performance der Künstlergruppe LIGNA, welche im Mai 2014 in der Dresdner Neustadt den Audiowalk „Walking the City“ konzipierte. Der Fokus dabei lag auf der individuellen Bewegung in der Stadt:
„Jede Stadt hat ihr eigenes Tempo, ihren ganz speziellen Takt. Das Normalste und Unauffälligste, was man in einer Stadt tun kann, ist das Gehen. Jedoch ist die Art und Weise, wie man durch eine Stadt geht, niemals die gleiche. Die Bewegung der Menschen verwandelt die Straße in eine Bühne. Jede Stadt hat ihr eigenes Tempo, jeder Fußgänger wird von diesem Tempo vereinnahmt.“ (Veranstaltungstext für „Walking the City“ (2014) auf der Webpräsenz des Europäischen Zentrums der Künste Dresden (abrufbar unter: http://www.hellerau.org/walking-the-city, 20.08.2017))
Die Künstlergruppe untersucht seit 2004 mit den ersten „Radioballetten“, wie man öffentliche Räume mit performativen, experimentellen Choreografien infiltrieren kann. Sie schaffen über die synchron ablaufende Audiospur ein verbindendes Element unter den Teilnehmenden, die als zerstreutes Kollektiv individuell auf Texte und Handlungsvorschläge eingehen können. So werden Mechanismen öffentlicher Orte untersucht und die Macht von Gesten und Bewegungen ausgelotet. Dabei funktioniert das Konzept des verbindenden akustischen Elements der Teilnehmenden, welches Passanten erst durch genaues Beobachten erahnen können, auch als Moment der Irritation, welcher sich wiederrum in einem spannenden Wechselspiel aus Aktionen und Reaktionen zwischen Teilnehmenden, unbeteiligten Passanten und ahnenden Beobachtern widerspiegelt. Der entscheidende Moment dabei: das „Dis-Placement“ ist gekennzeichnet durch einen unerwarteten Wechsel von Richtungen, einen nicht-nachvollziehbaren Fokus, eine unlogische Dynamik oder ein unangemessenes Tempo im Raum. Doch nicht allein der künstlerisch-performative Charakter dieser unerwarteten Bewegungen und Gesten erzeugt eine wirkungsvolle Spannung; auch die dabei stattfindenden Überschneidungen mit dem Politischen, mit den Formen von Protest und Kritik kennzeichnet das Format:
„Die Struktur des Radios, das Doppelgängerhafte der Stimme, wurde schon in den Zwanzigern als unheimlich wahrgenommen. Gerade diese Unheimlichkeit aber sucht die inzwischen privatisierten Orte öffentlichen Raums heim, in der Doppelgängerhaftigkeit der Gesten. Das Radioballett parodiert diese Wiederholung der Gesten, indem sie ihre alltägliche Asynchronizität synchronisiert und die Normierung des Raums ebenso sichtbar macht wie die Möglichkeit kollektiver Übertretung.“ (Vrenegor/ 2003)
Die Verflechtung mit dem Künstlerischen entsteht dabei in der ästhetischen Erscheinungsform politischer Praxen, „weil diese Praxen und Figurationen selbst mit ihren Normen, Regeln und Gewohnheiten bereits die sinnliche Wahrnehmung steuern, in dem sie Menschen sozial verorten und ihnen soziale und politische Handlungsspielräume zuordnen und auf diese Weise soziale Wahrnehmung regeln.“ (Klein/2013/ S.146) Die politische Aktion äußert sich demnach im Aisthetischen, als eine „sinnliche Praxis des Sichtbar-Machens und Verschiebens kultureller und sozialer Codes.“ (Ebd.) Das wiederum veranschaulicht den theatralen Charakter von Öffentlichkeit, indem sich in der Ästhetik von Protestformen (z.B. Aufständen, Blockaden, Demonstrationen) ein Kontrast zur Alltäglichen Performanz der permanenten Bewegung („Kinetische Realität der Moderne“) offenbart. (Vgl. ebd.)
Damit eröffnet das Experimentieren mit gesellschaftlichen Codes, das performative Untersuchen von öffentlichen Räumen und Ordnungen Möglichkeiten, in eine kritische Distanz zu treten und die Ästhetik der Öffentlichkeit als soziale Choreografie zu betrachten und damit nicht nur hinsichtlich ihrer Geschwindigkeiten und Abläufe, sondern auch in der „Praxis der Geschlechter, der […] Körperkonzepte, [und] der Klassen“(ebd.) zu hinterfragen. (Vgl. ebd.)
So schleichen sich in das Nachdenken über das Kollektiv und seine Handlungsmacht neben dem Spaß an der gemeinsamen Aktion auch Reflexionen über etablierte Abläufe der Gesellschaft. In die Identifizierung mit der losen Gruppe schleichen sich nach und nach Zweifel und in die Ästhetik des Kollektivs bedrohliche und unheimliche Ebenen. Während LIGNA ihre Zielsetzung in der Kritik an herrschenden Verhältnissen und an den Formen des Kritisierens selbst sieht, versucht der Audiowalk im Seminar, auch Verbindungsversuche zu Hybriden aus Kunst, Politik und Teilhabe zu schaffen. Hauptsächlich wurde dabei angestrebt, eine Verbindung zu verschiedenen Ideen aus der zeitgenössischen und politisch geprägten Hamburger Kunstszene zu schaffen, wie der kollektiven Wunschproduktion Park Fiktion oder der übergeordneten stark politisch- geprägten Bewegung „Recht auf Stadt“. Dabei werden die Grenzen zwischen formalen und inhaltlichen Nachdenken über den handelnden Körper, zwischen Individuum und Kollektiv, zwischen Alltag, Kunst und Politik neu ausgelotet.
Ziele
Die Studierenden sollten über viele kleine Handlungs- und Reflexionsimpulse dazu angeregt werden, sich vom unterrichtlichen Kontext zu lösen und sich auf ihre direkte Wahrnehmung als Erkenntnisraum einzulassen. Sie sollten dafür sensibilisiert werden, welche Relevanz Informationen entwickeln, wenn sie am konkreten Ort, mit einer konkreten Handlung verbunden werden und inwieweit diese Passung zur Veränderung der Erfahrung beiträgt.
Die Studierenden begreifen die Arbeit mit dem eigenen Körper bewusst als gestalterisches Mittel und reflektieren das Verhältnis zwischen alltäglicher Handlung und choreografierter Handlung im Kollektiv. Sie begeben sich dabei in einen experimentellen „Mitmach-Modus“, erproben Gedankengänge zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft und entwickeln im anschließenden Teil konkrete Ideen zur Arbeit im Stadtraum. Im letzten Teil werden einzelne Erkenntnisse diskutiert und das Erlebte reflektiert.
Konzept
Die Vermittlungssituation begann mit dem Abspielen der Audiodatei, in der auch die Begründung und Motivation für die Entwicklung des Konzepts anfänglich erklärt wird. So konnten sich die Studierenden mit der „Stimme“ vertraut machen und gleichzeitig wurde mit dem Bewegen aus dem Seminargebäude heraus auch das Format des „Exkurses“ verdeutlicht. Den Studierenden wurden außerdem nahegelegt, dass die folgenden Anregungen als Optionen zu betrachten sind, was ihnen auch die Position als passiver Zuhörer ermöglichen sollte und Hemmungen und Befürchtungen vor performativen Handlungen in der Öffentlichkeit abbauen sollte.
Angefangen mit passiven Aufgaben wie Zuhören und freiem Beobachten, wurden schließlich Handlungen des Gehens und Schauens angeleitet, welche in ihrer Kontextveränderung im Kontrast zur Alltagshandlung die Fokussierung auf den eigenen Körper ermöglichte. Schließlich wurden auch komplexere Handlungen und Bewegungen initiiert, welche in ihrer Ästhetik schärfer vom Alltäglichen abwichen, allerdings in ihrer spielerischen Symbolik und unter „freiem Himmel“ kaum für (unangenehme) Spannungen sorgten. Die gewählten Inputs neben den Handlungsanweisungen waren zunächst auch etwa musikalischer Natur oder ortsbezogenes Hintergrundwissen.
Mit dem Betreten des Hauptbahnhofs wurde der räumliche Kontext dann verändert, die Struktur dieses Ortes wurde zunehmend zu einem wichtigen Faktor für die Ausführung der Handlungen. Zunächst wurde daher der Raum rein durch das angeleitete Beschreiten erkundet- und Gedankengänge angeregt, die den Charakter des Ortes hinterfragten. Im Hauptraum vor den Gleisen weitete sich dann der Verband der Gruppe erstmals deutlicher und wurde auch für Passanten und Beobachter schwieriger fassbar. Diese Zerstreuung der Teilnehmenden forderte ihnen dann die nächste Stufe an „Überwindung“ ab, da der zu vermutende „Kunstkontext“ oder zumindest der Kollektivcharakter der Aktion damit nach außen weniger offensichtlich wurde und ein stärkeres Einlassen auf die Situation forderte. Später erfolgte dann das Erproben von Gesten und Bewegungen, die das erste Mal deutlich für Irritationsmomente für die Nicht- Eingeweihten sorgte.
Zudem wurden die inhaltlichen Fragestellungen philosophischer und politischer. Die Gruppe formierte sich schließlich nach dem Verlassen des Hauptgebäudes auf dem Außenplatz am deutlichsten und offenbarte ihre Inszeniertheit im Ausführen verschiedener Formationen- das Nachdenken über die Wirkung von Kollektiven und die Erscheinungsformen des politischen Protests wurde angeregt.
Erscheinungsformen des politischen Protests wurde angeregt. Danach wurden noch zwei Aufgaben in Einzelarbeit aufgetragen, die für die konkrete Stadtraum- Situation geplant werden sollte: Zunächst ein Entwurf zur Schaffung eines Irritationsmoments auf dem alltäglichen Weg durch die Stadt und schließlich noch eine Idee zu einer freien Wunschproduktion, bei der eine individuelle Fantasie in den Stadtraum eingearbeitet werden sollte. Diese beiden Aufgaben waren so angelegt, um einerseits die Dynamik der vorrangegangenen Erfahrungen nochmal in kreative schriftliche/zeichnerische Skizzen zu bringen und andererseits um den Studierenden einen Rückzug aus dem Kollektiv und dem Handeln zu bieten und wieder mehr Anknüpfungspunkte an Unterricht zu liefern. Als Feedbackmethode wurde anschließend das automatische Schreiben gewählt, da es ein geeignetes Format schien, den gesammelten Eindrücken einen direkten, spontanen Ausdruck zu verleihen, der zeitlich und räumlich noch nah an den durchgeführten Handlungen liegt.
Zurück im Seminargebäude ermöglichte das Skizzieren von Maps des Audiowalks im Zweierteam ein genaueres Nachempfinden des Weges; vergegenwärtigte dabei die gelaufenen Wege, fokussierten Wegelemente und Handlungsanweisungen während des Walks. Auf diese Weise sollte individuell auch nochmal eine gedankliche Wiederholung und Fixierung der gegebenen Impulse stattfinden, um sie für eigene Vermittlungssituationen verwerten zu können.
In einer kurzen Runde wurden auch einzelne Arbeitsergebnisse aus den abschließenden Einzelaufgaben vorgestellt und schließlich in einer Gesprächsrunde Fragen zur Planung und Durchführung des Walks zugelassen. Diese Umkehrung schaffte einerseits eine Möglichkeit, als Planender ein umfangreiches Feedback einzuholen; andererseits wurde das Gespräch so schnell zu wichtigen inhaltlichen Fragen gelenkt und führte dazu, dass ein spürbarer Informations- und Diskussionsbedarf zu inhaltlichen Themen geweckt wurde.
Prozess und Ergebnisse
Die Konzeption des Audiowalks offenbarte sich als geeignete Methode zum Heranführen an das performative Arbeiten. Die Abfolge und Auswahl an integrierten Elementen und Impulsen funktionierte mit der kontinuierlichen Erhöhung der Komplexität und Verbindung zu inhaltlichen Themen gut, selbst wenn einige kleine „Brüche“ oder technische Fehler sich abzeichneten. Auch Studierende ohne performative Vorkenntnisse oder skeptischer Haltung gegenüber künstlerischer Aktionen in der Öffentlichkeit konnten dem Format folgen und innovative Ideen ableiten.
Die Studierenden konnten dem Format folgen und innovative Ideen ableiten. Die Form der Vermittlungssituation als künstlerische Gruppenperformance ermöglichte den Studierenden ein Sich-Fallen- Lassen in ein anregendes Gruppenformat, bei dem aber auch individuellen Gedankengängen Raum gegeben werden konnte. Es entstanden auch ästhetisch sehr interessante Momente und Bilder während der Performance, und die Dynamik, welche das Format im Wechselspiel mit den bespielten Räumen und den Zuschauern entwickelte, ließ Fragestellungen aufkommen, welche über das Geplante hinausgingen.
Das automatische Schreiben ließ in seiner lyrischen Form Rückschlüsse auf individuell sehr unterschiedliche Erfahrungen ziehen- insgesamt zeichnete sich aber zugleich ein wohlwollendes Feedback zu den durchlebten Situationen ab. Die Bearbeitung der zwei Einzelaufgaben erfolgte zwar konzentriert, die Ähnlichkeit der Gedankengänge bei den beiden Fragestellungen sorgte jedoch für Überschneidungen oder die individuelle Entscheidung zur Vermischung der Ideen. Allerdings waren die vorgestellten Ergebnisse lebendig, humorvoll und spiegelten ein Nachdenken über gesellschaftliche Routinen im Alltag wider.
Die Gesprächsrunde offenbarte zunächst eine Annahme des Formats ‚Audiowalk‘ als anregende und vielseitige Ausdrucksform, zudem wurde der Wert der Verbindung von körperlicher Erfahrung im Zusammenspiel mit intellektuellen Fragestellungen und Erkenntnissen herausgearbeitet. Vereinzelt wurden dabei konkrete Umsetzungsideen oder technische Möglichkeiten im Arbeiten mit Schülern bereits angeregt. Gegen Ende der Vermittlungssituation wurde die individuelle Erfahrung der Studierenden jedoch noch einmal wichtig und inhaltliche Fragen, welche die verarbeiteten verbundenen Themen Kunst, Politik, Gesellschaft betrafen, umkreist.
Literatur
– Marie-Luise Lange: Grenzüberschreitungen. Wege zur Performance. Körper- Handlung- Intermedialität im Kontext ästhetischer Bildung. Königstein/Taunus: 2002.
– Veranstaltungstext für „Walking the City“ (2014) auf der Webpräsenz des Europäischen Zentrums der Künste Dresden (abrufbar unter: http://www.hellerau.org/walking-the- city, 20.08.2017)
– Interview mit der Gruppe LIGNA von Nicole Vrenegor. In: ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 475 (15.8.2003). (Abrufbar unter: http://www.akweb.de/ak_s/ak475/07.htm, 20.08.2017)
– Gabriele Klein: Choreografien des Protests im urbanen Raum. In: Kunstforum International Band 224, 2013, TITEL: URBAN PERFORMANCE II.