URBAN REBELLION

EINE VERMITTLUNGSSITUATION VON PATRICIA HEGENBARTH, MARIANNE SCHULZE UND PAULA WEDEKIND

1. Verortung


„Raus aus dem Wald, rein in die Stadt“ – Mit den Prinzipien der ästhetischen Forschung die Stadt erobern.

Ausgehend von der durchgeführten ästhetischen Forschen im letzten Jahr, sollte unsere diesjährige Vermittlungssituation als Weiterentwicklung dieser, als ein Aufeinandertreffen mit der Urban Art, verstanden werden.

Zu oft nehmen wir unsere Umgebung als selbstverständlich wahr, vergessen genauer hinzusehen, richten unsere Blicke ausschließlich auf kommende Handlungsmomente, anstatt die Augen schweifen zu lassen, an Ungewöhnlichem hängen zu bleiben und sich einfach einmal eine Weile zu wundern. Wie Kämpf-Jansen schon in ihrem Seminarpapier zur ästhetischen Forschung formulierte, hatte auch unsere Vermittlungssituation unter anderem das Ziel, den Mitstudierenden „einen fragenden und entdeckenden Umgang mit Dingen und Phänomenen alltäglicher Erfahrung“ (Kämpf-Jansen  2015, S.1), auf den Weg in den schulischen Kontext zu geben. Die Auseinandersetzung mit einer selbstgewählten Fragestellung ergibt aber nur dann Sinn, wenn die Forschenden die Motivation aufbringen, sich diesen Überlegungen zu widmen, tiefer in Materie und Gestaltungsoptionen einzutauchen und sich auf den Ort einzulassen, der für möglichen Erarbeitungen neue Inspirationen liefern kann (vgl. Kämpf- Jansen 2000, S.1). Wir als „Initiatorinnen“ dieser ästhetischen Forschung mussten uns darüber bewusst werden, dass der gewählte Ort der Vermittlungssituation, die Fragestellung sowie die möglichen Erarbeitungen beeinflussen wird. Diese Tatsache kann einschränken, jedoch auch die Chance beinhalten, herauszufinden, welche verschiedenartigen Prozesse ein Ort hervorrufen kann.

„Auch die Orte der Erarbeitungen sind von Bedeutung, denn sie sind in der Regel sowohl Arbeitsort und Ausstellungsort zugleich. Diese Orte muss jeder, muss jede für sich finden, hängen sie doch wesentlich auch mit den inhaltlichen Fragen zusammen, die nur in bestimmter Weise und in bestimmten Räumlichkeiten zur Anschauung kommen können.“ (Kämpf-Jansen 2000,  S. 1.)

Der für unsere Vermittlungssituation gewählte Ort der Stadt, genauer gesagt der Dresdner Neustadt, bietet viel Freiraum, um sich künstlerisch einzubringen. Die Stadtflucht der vergangenen Jahre macht den Ort der Stadt immer wichtiger. Viele erfahrene Künstler, aber ebenso künstlerische Anfänger nutzten in der Vergangenheit die zahlreich gegebenen Flächen und Räume des alternativen Viertels oberhalb der Elbe, um in unterschiedlichster Weise auf sich aufmerksam zu machen, sei es vor politischen, kulturellen oder „nur“ ästhetischen Hintergründen. (Zur Anregung eignet sich folgende Internetadresse: http://street-art- dresden.de/joomla16/).

Der städtische Raum lässt der_m Künstler_in Freiraum, Zeichen und Symbole aufzugreifen und den Raum humorvoll, kritisch oder dekorativ umzugestalten. Ein unmittelbarer Bezug von Werk und Ort entsteht und künstlerische Identitäten werden sichtbar (vgl. Müller/Uhlig 2011, S.8). Es geht darum, Spuren zu hinterlassen, auf sich aufmerksam zu machen und Andere zum Nachdenken anzuregen. Neu entstandene Räume werden genutzt, die Stadt erobert, sich Orte zu Eigen gemacht. Das real existierende Hinterlassen von etwas Subjektiven wird in der Zeit des Medienbooms, der Socialmediaangebote wie Snapchat, Twitter und Co zur Herausforderung, bleibt jedoch ein populärer Weg, die eigene Persönlichkeit auszudrücken und erlangt vielleicht gerade durch seine Rebellion gegen das Gesetz immer weiter Zuspruch. Immerhin ist das Zurücklassen von Zeichen und Codes schon so alt wie Menschheit selbst, denn die ersten Zeichen wurden vor 17.000 Jahren in der Höhle Lascaux an die Wände gemalt. Damals dienten Höhlenzeichnungen zur Sichtbarmachung von Existenz menschlichen Lebens, was wiederum übertragbar auf die heutige Zeit ist (vgl. Düring 2015, S.6). Urban Art thematisiert weiterhin den Strukturwandel in der Stadt und fordert die aktive Mitgestaltung des öffentlichen Raumes. Dort setzte auch unsere Aufgabe an die Studierenden an. Mithilfe der immer tiefer eindringenden Aufgaben, sollten sich die Studierenden mit ihrer Umgebung vertraut machen und Lust bekommen, eine aktive Mitgestaltung des öffentlichen Raums voranzutreiben. Hinblickend auf den schulischen Unterricht kann die Arbeit im öffentlichen Raum große Chancen hervorbringen, da vor allem dort künstlerische Eingriffe polarisieren und zum Diskurs anregen, bei dem sich nicht nur unmittelbare Bewohner besser kennenlernen können. Gerade dieser Diskurs, die vermeintliche Unvereinbarkeit von Gesetz und Kunst, ist hier besonders reizvoll. Nach Düring bietet es sich im schulischen Kontext an, die Gesetzeslage mit einzubinden und mit den Schülern einen Weg zu finden, auf dem es dennoch möglich ist, in der Öffentlichkeit künstlerisch aktiv zu werden. Gerade dieses „aktiv-werden“ empfindet Düring als besonders wichtig, da die SuS im urbanen Raum täglich mit dem Einfluss der Massenmedien, wie beispielsweise der Plakatwerbung in Berührung kommen und nur durch den direkten künstlerischen Umgang, das eigene Verhalten kritisch zu hinterfragen lernen. Mithilfe von Umgestaltungen wie das sogenannte Ad-Busting könnte man ein Art Gegenwerbung erzeugen und beispielsweise auf Missstände hinweisen (Düring  2015, S.8). Sowohl im schulischen Kontext, als auch in unserer Vermittlungssituation sollte deutlich werden, dass das gestalterische Handeln Potential bietet, um individuelle Gedanken in einem persönlichen Ausdruck festzuhalten (Schulze/Günter 2006, S.1). Gerade Jugendlichen auf dem Weg zum Erwachsenwerden kann dieses Hinterlassen von Individualität helfen, mit Veränderungen umzugehen.

In der Urban Art findet fast jedes Material Platz und kann zur künstlerischen Auseinandersetzung verwendet werden, weshalb ein großer Materialpool den Studierenden Anregung zur eigenen Konfrontation mit dem städtischen Raum bieten sollte. Mithilfe von Arbeitsimpulsen, konnten die Studierenden aus verschiedenen künstlerischen Strategien auswählen und eine oder mehrere, ihnen geeignet erscheinende erproben. Durch die passende thematische Verknüpfung von ästhetischer Forschung und Urban Art, haben wir uns für den Handlungsort Park und Straße entschieden.

2. Ziele der Vermittlungssituation


Die Studierenden kennen den Ort Stadt (Straße und Park) als möglichen Ort einer künstlerischen Auseinandersetzung. Sie kennen Kunstwerke der Urban Art und können ihre eigenen künstlerischen Auseinandersetzungen mit diesen in Verbindung setzen. Die Studierenden kennen mögliche Ausdrucksarten sowie Mittel, um sich künstlerisch in einen Ort einzubringen und diesen zu verändern. Sie kennen die deutsche Rechtslage und den Umgang mit Kunst im öffentlichen Raum. Die Studierenden können ihre eigenen Werke kritisch reflektieren.

3. Konzept


Ort: Teil des Alaunparks und angrenzende Straßen

Notes: Auf der Vorderseite eines Leporellos befindet sich eine „Landkarte“ mit einem eingegrenzten Bereich zur Orientierung in der Neustadt. Hier können die Studierenden beschrittenen Wege und beobachteten Dingen einzeichnen und vermerken. Die Rückseite und einem zusätzliches A3 Blatt bieten Platz für kleine Skizzen und notierte Gedanken. Eine eingeklebte Tasche enthält zudem alle konzipierten Aufgabenstellungen.

Material: Seile // Kreide // Klebeband // Kreppband // Acrylfarben // Pinsel // Malerfolie // Backpapier // Packpapier// Frischhaltefolie // Silberfolie // weißes Papier // Watte // Holzfiguren // Zahnstocher // Nadel // Faden // Stoff // Wäscheklammern // Cutter und Scheren // Blumensamen // Mülltüten // Draht // Mehl // Seifenblasen // Klopapier// Wolle // Bücher über Street Art, Typografie

SENSIBILISIERUNG I


In dieser Phase versuchen wir die Lernenden durch die Methode der Fantasiereise aus dem Alltag abzuholen und ihre Konzentration auf die Entdeckung und Beobachtung der neuen Umgebung zu richten. Dabei soll sich ihre Aufmerksamkeit zunächst nur auf ein Objekt oder einen Gegenstand fokussieren. Die Zeichnung dient hierbei als Zugang zu einer konzentrierteren Studie des Gesehenen. Wir sitzen gemeinsam im Kreis mit dem Gesicht nach außen und hören eine Geschichte über einen Reisenden aus der Wüste, der die Stadt zum ersten Mal sieht. Dabei sind die Augen der Hörenden geschlossen. Im Anschluss erhalten die Studierenden eine Sensibilisierungsaufgabe, die sie nach dem Öffnen der Augen in Einzelarbeit durchführen. Dabei sollen sie sich gedanklich auf die Frage einlassen, ob sich bei einem Perspektivwechsel als fremder Reisender die Bedeutung des betrachteten Objekts verschieben würde. Im Zwischengespräch am Treffpunkt soll diese Frage in der Gruppe aufgegriffen werden. Für die Zeichnung erhalten die Studierenden nur wenig Zeit, um den Fokus auf eine erste Begegnung mit einem Objekt zu legen. Hier steht nicht die detaillierte Zeichnung im Vordergrund, sondern die grobe Erfassung des Gegenstandes. In dieser Phase sollen die Studierenden also einen gewohnten Gegenstand von seinem alltäglichen Zweck befreit, neu erfahren.

SENSIBILISIERUNG II


Während der zweiten Sensibilisierung soll der Fokus auf den gesamten ausgewählten Bereich erweitert werden. Damit ermöglichen wir den Studierenden, denen der erste Zugang schwergefallen ist, eine neue Möglichkeit der Neuentdeckung der Stadt und des Parks nach eigener Neugier und eigenem Interesse. Durch die Schnelligkeit der Skizzen sollen Detailstudien vermieden werden und stattdessen eine Fokussierung auf die Form des Entdeckten stattfinden. Die Studierenden bearbeiten diese Aufgabe in Einzelarbeit. Anschließend trifft sich die Gruppe wieder am Treffpunkt. Hier werden die Leporellos von den Lernenden an eine Wäscheleine gehängt und die Zeichnungen gemeinsam betrachtet. Im Zwischengespräch werden die erkundeten Orte thematisiert und die unterschiedlichen Beobachtungen und Interessen diskutiert.

KÜNSTLERISCHE PRAXIS


In der praktischen Phase sollen die Studierenden künstlerische Eingriffe in den Stadtraum wagen. Grundlage hierfür können zuvor beobachtete und im Leporello vermerkte Gegenstände und Objekte sein. Um differenziert und im Sinne der ästhetischen Forschung, auf eigenem Interesse begründet zu arbeiten, ist dieser Teil sehr offengehalten: sowohl in der Wahl der Aufgabe, der Arbeitsform, als auch in der Vielfalt der Materialien. Wir zeigen den Gruppe mehrere Bilder der Arbeiten von Künstler_innen, die in den urbanen Raum eingreifen. Sie sollen als kurzer Einblick in die Vielfältigkeit der Ansätze und Arbeitsweisen einen Anreiz und Inspiration bieten. Die Studierenden haben die Möglichkeit, sich als Grundlage für ihren folgenden Arbeitsprozess eine Aufgabe aus ihrer Tasche im Leporello zu wählen. Diese werden ihnen durch die Vermittlerinnen zuvor kurz vorgestellt. Sie können nach eigenem Interesse auch frei arbeiten. Grundlage bilden die im Leporello während der Sensibilisierung zuvor vermerkten Objekte. In der Arbeitsform können sie zwischen Einzel-, Team- und Gruppenarbeit (bis 4er Teams) wählen. Materialien erhalten sie am Materialpool in Kisten. Dafür haben sie eine Stunde reine Arbeitszeit. Sollten die Studierenden schneller fertig sein, können sie eine neue Aufgabe wählen. Ihre Auseinandersetzung dokumentieren die Studierenden im Leporello. Zusätzlich können Fotografien angefertigt werden. Nach einer Stunde trifft sich die Gruppe am Treffpunkt. Die Orte der künstlerischen Eingriffe werden von den Studieremden bei den Vermittlerinnen in eine Karte für die Organisation des anschließenden Rundganges eingezeichnet.

AUSWERTENDER RUNDGANG und ABSCHLUSSDISKUSSION


Jede Gruppe stellt ihren Eingriff und die damit verbundenen Überlegungen kurz vor. Rückfragen werden besprochen. Anschließend begibt sich die Gruppe zurück an den Treffpunkt. In dieser Phase werden noch einmal die Leporellos als Mittel der Dokumentation auf ihr ästhetisches Potential und ihre Vorteile / Nachteile im künstlerischen Arbeitsprozess hinterfragt. Zudem wird über die Auswirkung eines öffentlichen künstlerischen Eingriffs diskutiert.

4. IMPULSE


//SETZE DICH FÜR ETWAS EIN! // ÜBERZEUGE DEINE UMWELT!

>> Suche einen Ort/ eine Stelle an der du glaubst, möglichst viele Leute zu erreichen! Überlege dir jetzt ein Thema/eine Angelegenheit/eine Fragestellung, die dir auf der Seele brennt und versuche mittels einer eigenen künstlerischen Gestaltung beispielsweise auf einem Plakat, deine Mitmenschen von deiner Idee zu überzeugen/ aufzurütteln/ zum Denken anzuregen/ zum Mitmachen zu bewegen!

Wir haben eine Vielzahl von Materialien bereitgestellt, die du für deine ästhetische Auseinandersetzung gebrauchen könntest.

Halte Gedankengänge/Zwischenergebnisse/evtl. wieder Verworfenes/ deinen Prozess in deinem Leporello in geeigneter Form fest.

Bitte beachte die vorherrschende Gesetzeslage und „beschädige“ deine Umwelt nicht unwiderruflich!

//ERWECKE DINGE ZUM LEBEN

>> Gedankenexperiment:

Was wäre, wenn alles uns Umgebende eine Sprache hätte? Was wäre, wenn allen Dingen ein Leben innewohnen würde?

Finde einen Weg, Gegenstände/Gesehenes zum Leben zu erwecken.

IMPULSFRAGEN: Was verändert sich? Welche Chancen oder Grenzen begegnen dir?

//PARALLELWELTEN

>> Wie leben die Menschen in der Neustadt? Was könnte ihr Leben ausmachen? Gibt es Gruppen, Einzelgänger? Wie verhalten sie sich zueinander?

Finde eine Möglichkeit eine Parallelwelt in der Stadt zu erschaffen.

IMPULSFRAGEN:

Wie könnte diese aussehen? Was macht sie aus? Welche Unterschiede/ Gemeinsamkeiten treten hervor?

//SPUREN DES LEBENS

>> Welche Spuren hinterlässt der Mensch im Stadtraum? Wie kommen diese zustande? Was sagen sie über den Menschen aus? Wo hinterlässt du im Alltag Spuren?

Finde einen Weg, selbst Spuren in der Stadt zu hinterlassen, die von anderen wahrgenommen werden können.

IMPULSFRAGEN:

Verändert sich durch deine Auseinandersetzung, deine Beziehung zum Ort? Wo ist der Unterschied zwischen Spuren des Alltags und einem bewussten Erzeugen von Spuren im öffentlichen Raum? Wie verändern sie deine Wahrnehmung der Neustadt? Was könnten sie zur Wahrnehmung der Neustadt von anderen Menschen beitragen?


Literaturverzeichnis:

 

– Kämpf- Jansen, Helga: Ästhetische Forschung. Aspekte eines innovativen Konzepts ästhetischer Bildung, in: Manfred Blohm (Hg.): Leerstellen, Köln: Salon Verlag 2000, S. 83-114.

– Müller, Carsten/ Bettina Uhlig: Narrenhände beschmieren Tisch und Wände, in: Kunst + Unterricht 351: Urban Art, Seelze: Friedrich-Verlag 2011, S. 4-11.

– Düring, Annika: Von der Straße in den Kunstunterricht: Urban Art, Hamburg: AOL Verlag 2015.


Internetquellen:

Street-Art, Dresden:
http://street-art- dresden.de/joomla16/ (zuletzt aufgerufen am: 15.09.2017)

Street-Art im Kunstunterricht, Standards nach dem Rahmenlehrplan für Sekundarstufe 1,
Berlin 2006

http://kunst-unterrichten.de/wp- content/uploads/2012/06/standards_street-art.pdf (zuletzt
aufgerufen am: 15.09.2017)

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