LISTEN AND WHISTLE – Vermittlungssituation zum Fokus Performance

EINE VERMITTLUNGSSITUATION VON ANNE PATZELT UND LILLY GÖBEL


[WE’VE COME A LONG WAY TO BE HERE TOGETHER]

Zunächst öffnet der Begriff Performance, unter welchem die von uns gestaltete Vermittlungssituation verlief, ein großes Spannungsgefälle. Malte Pfeiffer betont, dass Performance und Performativität mittlerweile ein Schlüssel- und Sammelbegriff in vielen Disziplinen geworden ist. (vgl. Pfeiffer / 2014 / S. 1) Die Extreme erschließen sich zwischen der künstlerischen Form der Performance und einer erfolgreichen Darstellung von etwas – eine gute Performance abliefern. Susanne Schittler stellt diese Gegebenheit als Ambivalenz zwischen einem „gelungenen Auftritt“ und „etwas Wilde[m], Unbezähmbare[m]“ dar. Genau an dieser Schnittstelle versucht unsere Vermittlungssituation zu fußen. Dazu zitiert Schittler McKenzie: „Und genau an dem Kreuzpunkt zwischen den beiden „Performance“- Verständnissen […] wird es spannend und weiterführend. Denn in eben dieser Differenz könnte das transformative Potenzial des Performativen liegen.“ (ebd.) Ein Spagat zwischen Spiel und Darstellen, zwischen Spontanität und Plan.

Innerhalb dieses Spiels gibt es Teilnehmende, in unserem Fall die Studierenden, Initiator_innen, die Richard Schechner auch als „manipulators of playing“ bezeichnet, das sind wir, und die Außenstehenden. Es entsteht innerhalb der performativen Handlung des Spiels ein Spielrahmen, welcher durch die Initiator_innen bestimmt wird. (vgl. ebd. S. 149) Dieser Spielrahmen umfasst in unserem Fall besonders die örtliche und zeitliche Umgrenzung des Stattfindenden. Und doch liegt das große Potenzial innerhalb des Spiels, als eine mögliche Form performativen Handelns, in der „Differenz, [der] Reibung, [dem] Widerstand, also [dem], was sich einer Handhabbarkeit entzieht.“ (ebd. S. 151) Schittler sieht die Aufgabe performativer Bildungskonzepte darin, „Situationen in einer Art Spielfeld einzurichten, zwischen einem Raum der Unbestimmtheit und der Möglichkeiten, in denen unsere eigene Wahrnehmungsfähigkeit in der Begegnung geschärft werden kann: auf uns und Andere.“ (ebd. S. 155) Und somit wurde es zu unserer Aufgabe einen Rahmen zu konzipieren, welcher den Teilnehmenden einerseits Sicherheit bietet und andererseits Raum gibt, um aus dem von uns gesteckten Rahmen auszubrechen. Dabei wurde es zum unausgesprochenen Ziel von den manipulators of playing zu stillen Beobachtern zu werden. Die Verantwortung als Strukturgeber wurde an dieser Stelle abgegeben und an die Agierenden übertragen, die sich selbst dem Spiel hingaben. Das Spiel beinhaltet stets die Komponente des Unvorhersehbaren, Unzähmbaren, Ausprobierens, da vielleicht nach bestimmten Regeln verläuft, man den Ablauf jedoch nicht planen kann und die Regeln überschritten werden können. In diesem Punkt zeigt sich das riesige Potenzial von Performance Art, weil auf diese Weise neue Erfahrungen gemacht werden können, die über alles vorher Gewusste hinausgehen. (vgl. Dudek 2016,  S. 108 f.)

Performative Forschung umfasst laut Schittler drei Ebenen: „die Arbeit als Imagination, als handelnde Untersuchung und als Methode der Intervention“. (Schittler 2015, S. 151) Dabei unterschiedet sich die performative Erkenntnis vom ursprünglichen Wissensbegriff dahingehend, dass sie „ein Wissen über“ vermittelt. (vgl. ebd.) „Es geht in einer performativen Perspektive eher um ein Fragen mit, ein Vermuten dass, ein Erfahren von, kurz um ein Verständnis davon, dass sich Erkennen auch anders vollzieht als im Herstellen von zeitlicher, räumlicher und medialer Distanz und Übersetzen in Sprache.“ (ebd.) Innerhalb unserer Vermittlungssituation setzten wir besonderen Schwerpunkt auf die Ebene der handelnden Untersuchung. Die Teilnehmenden hatten die Möglichkeit die Grenzen ihres eigenen Körpers und ihres Materials zu erproben und zu untersuchen, Erfahrungen mit sich als Individuum und im Gruppengefüge zu machen, um dadurch zu einer (ästhetischen) Erkenntnis zu gelangen. Pfeiffer betont, dass innerhalb der Performance das Agieren der Künstler_innen ins Zentrum der Beobachtung gerufen wird, welches nur im Moment des Handelns entsteht. (Pfeiffer 2014, S. 2) Für uns war diese körperliche Erfahrung, welche die Studierenden innerhalb der Vermittlungssituation machen sollten, ausschlaggebend dafür kein konkretes Ziel abzustecken. Die Teilnehmenden sollten, ähnlich wie Pfeiffer beschreibt, durch ihr Handeln zu einer Erkenntnis gelangen, und das währenddessen. Denn Performance Kunst wird auch als Körperkunst bezeichnet – der Körper existiert parallel zu den Parametern Raum und Zeit, unter deren Einfluss er agiert.

Dabei wird also ein Körperwissen vermittelt, welches einerseits handelnd und andererseits erfahrend geschieht. (vgl. Schittler 2015, S. 152) „In Bezug auf uns selbst sind wir Leibsein und Körperhaben“. (Meyer-Drawe 1999, S. 45) Diese leiblichen Erfahrungen sind elementar für ästhetische Bildungsprozesse, da Bildung, wie Pfeiffer betont, nicht ausschließlich aus Kompetenzen sondern auch aus Performanz, also der ausgeführten Kompetenz, dem eigenen Schreiben, dem eigenen Malen, dem eigenem Musizieren, besteht. (Pfeiffer 2014, S. 4) Deswegen war es wichtig, innerhalb unserer Vermittlungssituation den Fokus auf das Handeln der Teilnehmenden zu setzen. Im individuellen Handeln ist es den Agierenden möglich das Bewusstsein voll und ganz im eigenen Befinden und Empfinden zu kumulieren, was zum Entstehen eines neuen Sinnes- und Selbst-Bewusstseins führt (vgl. Lange [1] 2013, S. 17). Ihre Wahrnehmung lenken sie auf den eigenen Körper, der zu jedem Zeitpunkt an einem bestimmten Ort steht und auf vielfältige Weise mit den anderen Subjekten im Raum X verwickelt ist. Marie-Luise Lange beschreibt diesen Zustand als eine „I’m-Here- Situation“, die Person, die sie erfährt als „I’m- Here-Subjekt“. (vgl. ebd.) Diese Begrifflichkeiten unterstreichen deutlich, mit welcher Klarheit und Einfachheit die Wirklichkeit einer Situation erfahren werden kann. In wohl keinem anderen Zustand als diesem kann man Umwelteinflüssen, ob sinnlich wahrnehmbar oder nicht, offener und unvoreingenommener begegnen. „Denn in der Leiblichkeit der Wahrnehmung erlebt das Subjekt das Verstricktsein in den Moment begegnet sich dabei selbst.“ (ebd. S. 18)

Es sind genau diese eigens generierten Erkenntnisse, die Selbstbewusstsein quellen und multiperspektivisch denken lassen und zu begründbaren Entscheidungen führen. Im Alltag der Menschen geschehen fast alle Bewegungen, viele Handlungen und Entscheidungen unaufmerksam und selbstverständlich. Was passiert nun, wenn diese genau beobachtet anstatt übergangen werden? Wird hier Nähe zwischen sinnlichen Wahrnehmung und Körper aufgebaut? Die Sinnessensibilisierung und Wahrnehmungsfokussierung waren allgegenwärtige Bestandteile unserer gesamten VMS, klar tragend in der Einzelarbeitsphase und kombiniert in der Gruppenphase. Hier wurde aus dem isolierten Subjekt ein Gefüge an Subjekten, die ein Netz aus Aktionen bilden und sich offen gegenüberstehen. Aus der bestehenden, bestimmten I’m-Here- Situation wird eine neue synthetisiert, die eine Entscheidung eröffnet und durch Handlung, Zeitpunkt und Raum gekennzeichnet ist.

Was ist nun dieser Raum, in dem alles geschaffen wird? Marie-Luise Lange beschreibt ihn als „das Ergebnis von Aktivitäten, durch die er Ausbreitungsrichtungen bekommt und die ihn verzeitlichen.“ (Lange [2] 2013, S. 4) Er ist unspezifisch, unbegrenzt, fließend, instabil, abstrakt und er ist vor dies alles vor allem aufgrund von Handlung. Sein spezifisches Gegenstück ist der Ort, der mit seiner individuellen Geschichte und Sinn erfüllt ist und deshalb in einer fixierten Art und Weise Stabilität bedeutet. (vgl. ebd.) Unsere VMS findet an ganz bestimmten Orten statt; durch die Handlungen der Studierenden entstehen an diesem Ort Räume, die mit Bedeutung gefüllt werden. Es ist nicht gerade ein Sinn, sondern die bloße Bedeutung des Moments, die das Raumausmaß bestimmt und Bilder, Knotenpunkte, Situationen und Beziehungen entstehen lässt. Erweitert werden können diese Körper-Raum- Zeit-Handlungen durch Material. Ob materiell oder immateriell, sind sie ein wichtiges Gestaltungsmerkmal von Performances und sollten überlegt in das Konzept mit eingebunden werden, denn unter Verwendung von Material entstehen noch multiplere Sinneseindrücke. (vgl. ebd. S. 10) In der hier darzulegenden VMS gab es einen Materialpool, der frei entscheidbar genutzt oder ungenutzt bleiben konnte, womit die Möglichkeiten von Experimentieren, Spielen, Fantasieren, Verrücken, Passierens-Lassen, Interagieren und Konfrontieren erweitert wurden.

[CLARIFY YOUR PURPOSE]

Den eineinhalb Stunden unserer Vermittlungssituation lagen folgende Zielstellungen zugrunde:

/1// Die Studierenden handeln in ihren Einzelarbeiten untersuchend und experimentell, indem sie die Möglichkeiten und Grenzen ihres Körpers und des Materials austesten.

/2// Die Studierenden sollen ein Verständnis entwickeln über die Wichtigkeit und das Potenzial eines Gruppendynamischen Prozesses, um infolge dessen die Heterogenität einer Gruppe innerhalb einer VMS als Vorteil zu sehen.

/3// Die Studierenden erkennen die VMS als einen möglichen Ansatz für Performance im Unterricht.

/4// Die Studierenden fokussieren im Verlauf der VMS den eigenen Körper und das Selbst, um sich für sinnliche, gefühlsgeleitete Erkenntnisse zu öffnen und diese zu erlangen.

[HOLD ON TO THE CONCEPT,  ALWAYS DARLING]

Die VMS ist für die Arbeit im Freien konzipiert. Dabei umfasst sie von uns entwickelte fünf [5] Phasen.

Zunächst erfolgen eine kurze Begrüßung der Studierenden und die Einteilung in zwei Gruppen. Diese beiden Gruppen, welche unterschiedliche Aufgaben bewältigen, werden durch losen gebildet. Die Teilung der Gruppe geschieht einerseits um zwei verschiedene Ansätze für Vermittlungssituationen mit dem Schwerpunkt Performance aufzuzeigen und andererseits um die spätere gemeinsame Präsentation aus zwei unterschiedlichen Aufgaben-Blickwinkeln besprechen zu können. Eine wichtige Frage dabei ist: Werden die späteren Ergebnisse genau so unterschiedlich wie die Aufgabenstellungen? [1]

Die Gruppenaufgaben werden auf kleinen Zetteln an die Teilnehmenden verteilt:

A) Entwickle eigenständig eine Handlungssequenz. DEIN KÖRPER IST DEIN MATERIAL. Orientiere sich an Alltagshandlungen! Zur Hilfe oder Erweiterung stehen dir verschiedene Materialien zur Verfügung, die du in ihrer ursprünglichen Funktion verändern solltest.

B) Entwickle dein eigenes Klangorchester unter Zuhilfenahme deines Körpers und/oder der bereitgestellten Materialien! Experimentiere mit den Möglichkeiten und Grenzen der Klänge.

Somit entstehen eine eher handlungsorientierte und eine klangorientierte Gruppe. Gewählt wurden diese beiden Möglichkeiten, um bekannte künstlerische Beispiele, wie Laurie Andersson als Vertreterin der Musikperformance, nachzuempfinden und unterschiedliche Sinneswahrnehmungen in den Mittelpunkt zu stellen.

Der Material-Pool gestaltet sich dabei vielfältig, von Mehl und Salz, über Alufolie, bis hin zu einem Springseil können die Studierenden frei wählen. Beide Gruppen speisen ihre Ideen und Experimente aus demselben Material-Pool, um den Umgang mit diesem möglichst ungeleitet zu ebnen. Die Gruppen werden währenddessen räumlich voneinander getrennt und angehalten selbstständig Erfahrungen zu sammeln, um einen intensiven Zugang zu ihrem gewählten Material und ihrem Körper zu ermöglichen und dabei die Sinne der Teilnehmenden zu schärfen. Innerhalb dieser Phase sollen Möglichkeiten und Grenzen des selbstgewählten Materials in Bezugnahme der Handlungs- oder Klangorientierung erprobt werden. Die Studierenden nutzen dabei künstlerische Herangehensweisen wie ZITIEREN, EXPERIMENTIEREN und ZUFALL. Diese erste Annäherung wird ungefähr auf 15 Minuten abgesteckt. [2]

Innerhalb der gemeinsamen Präsentation wird der Ort gewechselt, an welchem ein klar abgegrenztes „Spielfeld“ zu finden ist. Durch diese Abgrenzung vom sonst öffentlichen Raum, entsteht ein Vehikel, indem alle Beteiligten uneingeschränkt und spielerisch agieren können. Durch den Ortswechsel wird auch die neue Aktionsphase visualisiert, da alle Studierenden eine bewusste Veränderung zwischen ihrem eigenständigen Erproben und dem gemeinsamen spontanen Präsentieren wahrnehmen. Die Teilnehmenden erhalten erneut unterschiedliche Gruppenaufgaben:

A) Führe deine Handlung zeitgleich mit den anderen auf! Versuche vorsichtig, auf andere Einfluss zu nehmen oder lass dich beeinflussen! Ergeben sich Interaktionen?

B) Lasst das (Klang-) Spiel beginnen. Nehmt mit eurer Klangproduktion vorsichtig auf die Handlungen der anderen Gruppe Einfluss oder lasst euch beeinflussen!

Die gemeinsame Präsentation läuft ca. 10 bis 15 Minuten, in denen je 2 Teilnehmende neue Aufgaben bekommen:

C) Beobachte das Geschehen und notiere Auffälligkeiten. Du kannst dich entweder auf die Gesamtsituation oder auf selbst gewählte Fokusse beziehen.

D) Störe das Geschehen.

Gewählt wurden diese zusätzlichen Aktionen, um einerseits das Geschehen auch als passiver Beobachter zu reflektieren und andererseits um die Grenzen und Möglichkeiten von Störungen und Irritationen während performativer Handlungen zu unterstreichen. Diese Phase beinhaltet zu anfangs ein Aufgreifen der zuvor erprobten physischen Aktionen, und fordert zugleich ein Auflösen, Freimachen von diesen zugunsten des produktiven Weiterentwickelns und intuitiven Handelns. [3]

Um im Anschluss die erlebten Eindrücke zu sammeln, kommen alle Teilnehmenden unweit des Spielfeldes zusammen und versuchen entstandene Bilder und Erfahrungen mit Hilfe von Zettel und Stift zu formulieren. Ziel dieser kurzen Ruhephase ist es, dass die Teilnehmenden die vielen Eindrücke kurz verarbeiten können, um eine stockende Auswertung zu vermeiden. Danach folgt das Gespräch im Plenum zu verschiedenen Impulsfragen an die Teilnehmenden. Im Fokus des Gesprächs stehen besonders Erkenntnisse und Wahrnehmungsveränderungen der Teilnehmenden innerhalb der bisherigen Vermittlungssituation. [4]

Im Anschluss werden Plakate mit verschiedenen Aussagen durch die Teilnehmenden bewertet. Jeder Studierende erhält mindestens drei Klebepunkte [rot = Ablehnung, gelb = Zustimmung, blau = keine Stellungnahme]

_Performance eignet sich nur für die Oberstufe.

_Performance muss Teil des Kunst-Unterrichts sein.

_Die Vermittlungssituation ist auf den Schulkontext übertragbar.

_Provokation ist immer ein Teil von Performance.

_Der Körper ist das ausdrucksstärkste Mittel innerhalb der Kunstproduktion.

Besonders stark frequentierte Positionen oder kontroverse Meinungen zu den Aussagen werden im Anschluss besprochen. [5]

Bevor die Teilnehmenden verabschiedet werden, haben sie die Möglichkeit kleine Take- Home-Messages mitzunehmen, welche sich auf jeweils ein künstlerisches Beispiel für Musik- und Klangperformances und Gruppenperformances beziehen. Diese sollen als Anregung zur weiteren Auseinandersetzung mit vielfältigen Erscheinungsformen von Performance dienen. Nach der VMS ist vor der VMS!

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