# Verortung
EINE VERMITTLUNGSSITUATION IM MUSEUM.
WAS ZEICHNET DIESEN BESONDEREN LERNORT
AUS UND WIE GELINGT DIE VERMITTLUNG?
TEXT: MARTHA TILLE
Das Museum ist als ein Ort zu begreifen, der schulisches Lernen durch authentische Erfahrungen erweitert und bereichert. Dabei kann er als Teil in ein Projekt aufgenommen werden, der Vertiefung der Unterrichtsinhalte dienen oder auch bewusst als Freiraum definiert werden (Vgl. Rupprecht 2016, S. 271f.).
Gerade in unserer zunehmend digitalisierten Welt zeichnen sich Museen als besondere Lernorte dadurch aus, dass die Authentizität des originalen Kunstwerks das Verstehen und Begreifen und somit auch das Lernen fördert (Vgl. Kunz-Ott 2013). Die Kunstpädagogin Bettina Uhlig begründet dies folgendermaßen: „Werden einzelne Sinnesreize ausgeblendet, wie es beispielsweise dann der Fall ist, wenn nur eine Reproduktion zur Verfügung steht, wird die Wahrnehmung eingeschränkt und möglicherweise verfälscht“ (Uhlig 2005, S. 93.). Das Original birgt also das große Potenzial, dass ästhetische Erfahrungen ermöglicht werden und Persönlichkeitsentwicklungen stattfinden können. Mit der „Bildung im Museum“ sollte deshalb auch nicht von Wissensvermittlung und Belehrung, sondern vielmehr von der „Selbst-Bildung“ der Persönlichkeit gesprochen werden (Vgl. Kunz-Ott 2013). Diese findet dadurch statt, dass vor dem Original persönliche Perspektiven, Meinungen und Haltungen ausgetauscht und hinterfragt werden. Dieser Prozess erfordert eine Perspektivübernahme gegenüber der Bildfigur, den Haltungen anderer Schülerinnen und Schüler sowie der Intension des Künstlers bzw. der Künstlerin. Eine Perspektivübernahme bedeutet gleichzeitig, in Distanz zu treten zur eigenen Person, zu Rollen- und Identitätsbildern und sich selbst darin zu verorten (Vgl. Uhlig 2005, S. 66f.).
Aber Vermittlung bedeutet nicht gleich Aneignung. Es stellt sich also die entscheidende Frage, welche Vermittlungsformate die RezipientInnen auch tatsächlich erreichen und wodurch sinnstiftende Auseinandersetzungen angeregt werden können.
Leider ist es eher ernüchternd, dass durch Museumsbesuche keine Steigerung der privaten Museumsbesuche bei den Kindern festgestellt werden konnte (Vgl. Rupprecht 2016, S. 270). Auch eine Strukturierung durch Führungen oder konkrete Aufgaben resultiert in weniger Eigeninteresse und Motivation (Rupprecht 2016, S. 268). Es erscheint vor diesem Hintergrund also besonders wichtig, die bestehenden Formen der Wissensvermittlung aufzubrechen und neue Formate mit methodischer Vielfalt zu entwerfen, um Kinder zu begeistern und über die Schule hinaus zu motivieren. Nur wenn Museumsbesuche auch Spaß und Freude machen, kann das Interesse für die Institution langfristig geweckt werden (Vgl. Rupprecht 2016, S. 267). Förderlich für die intrinsische Motivation wirkt sich die Befriedigung der Bedürfnisse von Kindern nach „Autonomie, Kompetenz und sozialer Eingebundenheit [aus]“ (Rupprecht 2016, S. 269). Dieses Ziel kann zum Beispiel durch forschendes und entdeckendes Lernen erreicht werden (Vgl. Rupprecht 2016, S. 270). Methoden wie diese erfordern im Gegensatz zur Übermittlung von Informationen allerdings ausreichend Zeit und Freiräume für die selbstbestimmte, eigenaktive Erkundung der Ausstellung.
Werden die hier aufgeführten Forderungen berücksichtigt, so kann Lernen im konstruktivistischen Sinne stattfinden und sichergestellt werden, dass „der Lernende eine aktive Rolle bei der Konstruktion von Sinn und Bedeutung spielt.“ (Rupprecht 2016, S. 268).
Die Kunst- und Kulturwissenschaftlerin Nora Sternfeld kritisiert in ihrem Beitrag Der Taxispielertrick, dass bei herkömmlichen Vermittlungsformaten kein „abholen der Menschen, wo sie stehen“ stattfindet (Sternfeld 2005, S. 328). Vielmehr, so führt die Autorin aus, richte sich die Vermittlung an die leistungsstarken Kinder der oberen Bildungsschichten. So werde Wissen „stillschweigend vorausgesetzt“ und „lobend gefördert“ (Sternfeld 2005, S. 328). Als Resultat werden „diejenigen, die es nicht bereits unbewusst besitzen und gerade deshalb zumeist auch nicht danach zu fragen wagen, […] im pädagogischen Prozess benachteiligt“ (Sternfeld 2005, S. 329). Das übergeordnete Ziel bei der Planung einer Vermittlungssituation besteht also in der Herausforderung, alle SchülerInnen dort abzuholen, wo sie stehen. Als Lösungsvorschlag führt Sternfeld im Gegensatz zur meist nur partizipatorischen die emanzipatorische Pädagogik an. Diese richtet sich danach, den ganz persönlichen Standort zu thematisieren, also den individuellen Bezug zum Museum und Kunstwerk als Anknüpfungspunkt zu wählen (Vgl. Sternfeld 2005, S. 331f.). Auf diesem Wege ginge es nicht mehr wie bisher um Informationsweitergabe sondern darum, welche Kontexte offengelegt und Fragen aufgeworfen werden können (Vgl. Sternfeld 2005, S. 332).
Alle Kinder in die Kunstrezeption einzubeziehen bedeutet, dort anzuknüpfen, wo jedes (gesunde) Kind die gleichen Voraussetzungen hat: bei der Wahrnehmung unserer Umwelt mit unseren Sinnen. Denn das Original bietet, im Gegensatz zur Reproduktion, die Möglichkeit des „Lernen[s] mit allen Sinnen“ (Rupprecht 2016, S. 272). Nutzt man dieses Potenzial, so fungieren die vielsinnlichen Wahrnehmungen als Basis für eine vertiefte Rezeption und fördern dadurch Interpretationsprozesse (Vgl. Uhlig 2005, S. 93f.). Erste Assoziationen können dann zur Verdichtung der Wahrnehmungen förderlich sein, da durch diese Methode Informationsnetzwerke aufgebaut und damit das Lernen gefördert wird (Vgl. Uhlig 2005, S. 63).
Dabei ist zu bedenken, dass Kunstrezeption immer auch ein sozialer Prozess ist. Es geht darum „wer aus welcher Perspektive was sieht“ (Sternfeld 2005, S. 332). Im Austausch über Kunst im Museum gibt es also kein „richtig“ und kein „falsch“, nur Wahrnehmungen und Gedanken in der individuellen Kunstrezeption (Vgl. Uhlig 2005, S. 99.). Diese Offenheit der Lehrperson gegenüber unterschiedlichen Wahrnehmungswelten ist eine entscheidende Grundlage für die tiefgründige und ehrliche Auseinandersetzung in der Vermittlungssituation.
Die Vermittlungssituation widmet sich vordergründig der Sonderausstellung „WERK WANDEL“ des Künstlers Joachim Richau, welche vom 02.06.2018 – 19.08.2018 im Leonhardimuseum Dresden stattfand.
Joachim Richau wurde 1952 in Ost-Berlin geboren. Heute lebt er in Berlin und der Uckermark und ist seit 1983 freischaffend fotografisch tätig. Seit 1989 fanden regelmäßige Arbeitsaufenthalte in Schweden statt, wobei er von 2005 – 2016 in seinem Atelier in einer Waldhütte eines Freundes lebte und arbeitete. In dieser Zeit setzte er sich intensiv mit Landschaftsstrukturen auseinander und neben Einzelbildern entstand hier auch der Zyklus „FRAGMENT“. In der Stille und Abgeschiedenheit fand er Konzentration für die künstlerische Versenkung und Hinwendung zu sich selbst (Vgl. Richau 2017, S. 1f.). Seine langsame Arbeitsweise beschreibt der Künstler selbst als „meditativ-forschende Sammlungstätigkeit“ (Richau 2017, S. 2). Richaus Werk ist stark biografisch geprägt: „Es ist egal, wo und was ich fotografiere, ich fotografiere immer mich“ (Richau 2017, S. 4). Dies zeigt sich für den Betrachtenden besonders in jenen Arbeiten, die nach einer Krebserkrankung und nach dem Tod seiner Tochter entstanden sind („Rost is I“ und „Sten Brott I“).
Die Ausstellung in Dresden würdigte den 65. Geburtstag des Künnstlers, indem sie einen Einblick in sein 40-jähriges Werk gab. Es waren 98 fotografische Arbeiten unterschiedlicher Werkkomplexe von 1979 – 2006 zu sehen. Insgesamt umfasste die Ausstellung vier Stationen in Deutschland, wobei jede Station schwerpunktmäßig andere Facetten seines Werkes vorstellte.
# Ziele
Das Lernpotenzial von Museen als außerschulische Lernorte wird in der Praxis noch nicht ausreichend ausgeschöpft. Die Leiterin der Abteilung Bildung und Vermittlung im Deutschen Hygiene-Museum Dresden, Carola Rupprecht, fordert deshalb ausdrücklich mehr Zusammenarbeit und gemeinsame Projekte zwischen Museen und Schulen (Vgl. Rupprecht 2016, S. 267). Die durchgeführte Vermittlungssituation dient deshalb einer Annäherung an den außerschulischen Lernort Museum im Allgemeinen und als Anreiz für die angehenden LehrerInnen, im späteren Berufsleben Museen mit ihren Schulklassen zu erkunden. Je größer der persönliche Bezug und die Museumskompetenz der Lehrkraft sind, desto mehr besucht diese mit ihrer Klasse ein Museum (Vgl. Rupprecht 2016, S. 271). Außerdem bietet die Vermittlungssituation den Studierenden die Gelegenheit, das Leonhardimuseum Dresden als konkreten Lernort der Stadt Dresden kennen zu lernen. Mit der Sonderausstellung des Fotografen Joachim Richau „WERK WANDEL. Fotografische Arbeiten 1979 – 2016“ bietet sich außerdem die Möglichkeit, sich mit dem zeitgenössischen deutschen Künstler und dem Medium der Fotografie vertiefend auseinanderzusetzen. Der Schwerpunkt soll dabei auf den Werken des Zyklus „FRAGMENT oder die Gegenwart des Zweifels“ liegen, welcher vor allem aus skandinavischen Landschaftsfotografien besteht, deren Hauptgegenstand der Stein in unterschiedlichsten Formationen und Witterungen ist.
Der Stein bildet den Schnittpunkt zwischen dem Bildgegenstand, dem historischen Gebäude und den romantischen Landschaftsmalereien des Namensgebers Eduard Leonhardi (1828 – 1905). Zur Vorbereitung auf das Museum steht deshalb eine vielsinnliche Annäherung an die Materialität von Steinen. Das Ziel besteht darin, die visuell basierte Rezeption der Fotografien durch weitere sinnliche Dimensionen zu erweitern. Auf dieser Grundlage kann ein sinnstiftender Austausch vor dem Original eingeleitet werden und eine vertiefende Auseinandersetzung mit der Landschaftsfotografie stattfinden. Das reflektierende Gespräch im Anschluss an die Kunstrezeption soll den Künstler, sein Werk und den Ort zusammenführen und sowohl deren Potenzial als auch mögliche Grenzen aufzeigen.
Für die spätere Planung im Rahmen der Lehrtätigkeit ist es wichtig zu wissen, dass eine höhere Wirksamkeit der Lernprozesse dann erreicht werden kann, wenn der Besuch in den Schulunterricht eingebunden wird, also eine Vor- und Nachbereitung des Besuchs im Museum stattfindet (Vgl. Rupprecht 2016, S. 269f.).
# Konzept
Zentraler Bestandteil der Vermittlungssituation ist die Annäherung an die Fotoausstellung des Künstlers Joachim Richau. Im Mittelpunkt stehen die sinnstiftende Annäherung an den Bildgegenstand sowie die Wirkung und Ausdrucksform der Kunstwerke. Zweitrangig soll auch über den Künstler und seine Arbeitsweise informiert werden, was jedoch in einem nachfolgenden Kunstunterricht aufgegriffen und vertieft werden könnte. Das Leonhardimuseum als solches steht dabei aufgrund der zeitlichen Begrenzung im Hintergrund, in der Schulpraxis könnte dem Besuch eine Thematisierung des Museums vorausgehen. Insgesamt besteht dann die Vermittlungssituation aus folgenden Aufgabenformaten:
Vielsinnliche Wahrnehmung und Annäherung an die Materialität von Steinen,
- Aufnahme einer Audiodatei/Sprachnachricht mit persönlichen Zugängen und Assoziationen zum Material,
- Rundgang durch die Fotoausstellung und gleichzeitiges Abspielen der Audiodateien,
- Austausch im Zweiergespräch vor den Kunstwerken,
- Diskussionsrunde im Plenum vor den Kunstwerken zum Ausdrucksmedium Fotografie, zum Werk und der Biografie des Künstlers sowie der Ausstellungskonzeption,
- Abschluss und Beantwortung offener Fragen der Studierenden.
Durch diesen Ablauf wird in der Vermittlungssituation ein Wechselspiel zwischen Rezeptions-, Reflexions- und Produktionsphasen hergestellt.
Die Vermittlungssituation beginnt am Elbufer unterhalb des Leonhardimuseums. In der Einstiegsphase erkunden die Studierenden unterschiedliche Steine durch den Tast-, Geruchs- und Sehsinn. Erste Assoziationen halten sie auf Notizzetteln fest. Diese dienen als Grundlage dafür, direkt im Anschluss einzeln oder zu zweit eine einminütige Audiodatei bzw. Sprachnachricht im Massenger „Whattsapp“ aufzunehmen. Das Ziel dieser Einführung ist es, die durch die sinnlichen Erfahrungen angeregten persönlichen Assoziationen, Erinnerungen und Bedeutungen wachzurufen, für den späteren Museumsbesuch zu bewahren und mit den anderen zu teilen. Die Audiodateien werden dann der gesamten Seminargruppe im Messenger zur Verfügung gestellt.
Nach einem kurzen Fußweg zum Museum beginnt der Hauptteil der Vermittlungssituation. In der ersten Phase erkunden die Studierenden zuerst die Ausstellung und hören dabei über Kopfhörer die zuvor aufgenommenen persönlichen Erzählungen der KommilitonInnen. Dadurch wird die visuelle Wahrnehmung durch die auditive Dimension ergänzt und gleichzeitig die Kunstrezeption mit den sehr persönlichen Inhalten der anderen angereichert.
In der zweiten Phase werden die Studierenden in zwei Gruppen aufgeteilt. Die erste Gruppe verortet sich vor einem Kunstwerk im Museum, wo zuvor ein besonders sinnlicher, emotionaler oder spannender Moment aufgetreten ist. Diese subjektive Erfahrung dient als Ansatzpunkt für ein Gespräch mit TeilnehmerInnen aus der zweiten Gruppe. Diese suchen nacheinander mehrere verortete Studierende auf und Stellen eine Frage zum Werk. Die Sozialform der Partnerarbeit intensiviert dabei den persönlichen Austausch und lässt viel Gesprächsraum für die unterschiedlichen persönlichen Zugänge zu den Werken.
Den Abschluss des Museumsaufenthalts bildet eine Diskussionsrunde im Plenum vor einzelnen Kunstwerken. Dabei wird zuerst auf die vorangegangen persönlichen Erfahrungen und Diskussionen eingegangen, um diese wertzuschätzen und anschließend zu weiteren Themengebieten übergehen zu können. Ziel dabei ist die Anregung sinnstiftender Auseinandersetzungen über das Werk, das Ausdrucksmedium Fotografie und der Ausstellungskonzeption. Hintergrundinformationen zur Biografie und Arbeitsweise des Künstlers dienen dabei als Ausgangspunkt, um Zitate zu diskutieren und sie in Bezug zu den Kunstwerken zu setzen.
Quellen
Richau, Joachim: FRAGMENT oder die Gegenwart des Zweifels. Verlag Heidelberg Berlin, Köln, 2017, keine Seitennummerierung. Einzusehen unter: http://www.joachim-richau.de/info/wp-content/uploads/2017/09/Booklet-Richau-19.4.ES-final.pdf, letzter Zugriff am 31.08.2018.
Rupprecht, Carola: Schule und Museum. In: Beatrix Commandeur, Hannelore Kunz-Ott, Karin Schad (Hrsg.): Handbuch Museumspädagogik. Kulturelle Bildung in Museen, Druck: Kessler Druck+Medien, Bobingen, 2016, S. 267-273.
Sternfeld, Nora: Der Taxispielertrick. Vermittlung zwischen Selbstregulierung und Selbstermächtigung, in: Meyer, Torsten / Kolb, Gina: what’s next? Art Education. Ein Reader, München 2015, S. 326-332.
Uhlig, Bettina: Kunstrezeption in der Grundschule: Zu einer grundschulspezifischen Rezeptionsmethode, München 2005, (Dissertation), S. 62-105.
Kunz-Ott, Hannelore: Museum und Kulturelle Bildung, 2012/13, einzusehen unter: https://www.kubi-online.de/artikel/museum-kulturelle-bildung, letzter Zugriff am 29.08.2018.
Internetseite des Leonhardimuseums Dresden: https://www.leonhardi-museum.de/
Internetseite des Künstlers Joachim Richau: http://
www.joachim-richau.de/info/