BERLINEXKURSION

Berlinexkursion – Augen auf und rein in die KUNST!

TEXT:   Hannah Drescher

Wir stecken unsere kunstpädagogischen Nasen ja in alle Ecken und Winkel von Dresden, die nach Kunst riechen. Jetzt ist es mal an der Zeit, andere Luft zu schnuppern. Und der frischste Wind weht in Berlin, weshalb es die Erstsemestler_innen der Kunstpädagogik samt und sonders Dozentin Christin Lübke und Tutor_innen Hannah und Jonas am 12. Januar in die Hauptstadt verschlägt.

Im unerschöpflichen Reichtum an Kunst und Kultur sind es im Januar vor allem zwei Ausstellungen, die wir mit eigenen Augen und Ohren erleben wollen. 

Die südkoreanische Künstlerin Lee Bul zeigt im Martin Gropius Bau ein beeindruckendes Repertoire an graphischen, installativen, audio-visuellen und skulpturalen Werken unter dem Titel „Crash“. Im Hamburger Bahnhof zeigt die polnische Künstlerin Agnieszka Polska die Mehrkanal-Videoinstallation „the Demon’s Brain“.

Von unzähligen Sehenswürdigkeiten und Gedenkstätten sorgt kaum ein Monument für ähnliche Kontroverse wie das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, das Holocaust-Mahnmal.

Die Exkursion nach Berlin nutzen wir also auch, um uns an Ort und Stelle mit der konkretisierten Formfindung für das Unmögliche auseinanderzusetzen. Und wie dem begegnet wird und werden kann.

Um 10 Uhr treffen wir uns vor dem Martin Gropius Bau. Beeindruckend, diese prunkvolle Architektur, und beeindruckend auch das erste Objekt Lee Buls, das in der Eingangshalle den Luftraum füllt. „Willing to be vulnarable. Metalized Balloon“ (2015/2016) erinnert in Form und Größe an ein zeppelinartiges Luft- und Raumfahrt Gebilde. Gleichzeitig überwältigend und irgendwie irritierend – vielleicht deshalb, weil die metallisch-glänzende Hülle sofort an aufgeklebte Alufolie denken lässt. Futurismus von vor 20 Jahren. Futurismus als Kulisse. Dieses Aufeinandertreffen von überwältigend, futuristisch, glänzend und billig an Material und Verarbeitung ist einer der vielen Aspekte, die sich als Crash sichtbar machen. Auch ein Crash an Material und Form: Raumeinnehmende Spiegelglasflächen, auf denen leuchtende Lichter installiert sind, werden von aufeinandergestapelten Plastikbechern getragen, sehr detailliert ausgearbeitete und graphisch harmonisch-ansprechende Skizzen konkretisieren sich in riesigen Gebilden aus billigen und unsauber verarbeiteten Materialien. Ein Form- und Materialcrash, wenn ritterartige Avatarrüstungen in Porzellan gegossen sind. Ein Crash auch, wenn Technik und Mensch in cyborgartigen Monsterwesen verschmelzen und Gliedmaßenteile tentakelartig aus stofflichen (und als Kostüm tragbaren!) Fleischsäcken von der Decke hängen. Ein historischer und politischer Crash zweier Nationen, wenn die skulpturale Installation „Bunker“, die auf die südkoreanischen Luftschutzbunker referiert, in der Luftlinie über das Gropius-Gebäude hinaus Grenzen-aufzeigend und -überwindend auf die ehemalige Berliner Mauer trifft.  Zeitgeschichte und gegenwärtige Politik Südkoreas wird in den Werken Lee Buls vielperspektivisch verarbeitet, worauf im kuratorischen Konzept der Ausstellung durch Informationstexte verwiesen wird.

Der Ausstellungsbesuch ist wie das Eintauchen in eine in Formen, Materialien und Deutungsebenen mehrdimensionale und andersartige Welt, die mit einem Crash auf die unsere trifft.

Nach diesem Crash begeben wir uns jetzt erstmal auf Nahrungssuche. Dann treffen wir uns am Denkmal für die ermordeten Juden Europas.

Wie kann man nun solch einer historischen und monumentalen Gedenkstätte begegnen? Wir fokussieren uns zunächst auf die sinnlichen Zugänge. Das Denkmal mit den zur Mitte hin immer größer werdenden Betonstehlen verschluckt den Straßenlärm und die Menschen, die sich tiefer hineinbegeben, förmlich. Zwischen den überragenden Betongebilden weiß man nicht, wem man als nächstes wie nahe begegnet, wer beobachtet und wer beobachtet wird, wer sich oberhalb und wer sich unterhalb befindet. Die architektonischen Geradlinigkeiten neigen sich minimalen Verschiebungen und erheben sich in immergleichen Abständen leicht schräg auf dem wellenartigen Pflasterboden, in der Stabilität macht sich Instabilität erfahrbar (Stefanie Endlich: Realisieren um jeglichen Preis? Zum geplanten Denkmal für die ermordeten Juden Europas. In: kunststadt stadtkunst 43, 1998, S. 9–10.). Der Regen perlt ab an der grauen Oberfläche, die Tropfen haften still.

Menschen fotografieren das Denkmal und vor allem sich vor dem Denkmal, rufen, laufen, posieren. Wir sind irritiert. So zwischen Mahnmal und touristischer Sehenswürdigkeit.

Wir tauschen uns aus, diskutieren, finden unterschiedliche Positionen und Perspektiven, und während sich immer mehr Fragen stellen, zeigt sich jedenfalls, dass das Holocaust Mahnmal wohl ein Denkmal für ein Zeitgeschehen ist, auf das es keine einfachen Antworten gibt.

Es ist kalt und wir machen uns auf zum Hamburger Bahnhof.

Im Gebäude drängen sich Menschenmassen. Wir ergattern Tickets und betreten die Historische Halle durch einen schweren schwarzen Vorhang. Direkt vor uns eine riesige Texttafel, dahinter im Raum circular verteilt vier Leinwände, auf denen unterschiedliche Videosequenzen laufen. Mittig im Raum ausgelegt und übereinandergestapelt Schaumstoffmatratzen. Wir suchen uns Orte und gucken. Ein Reiter in mittelalterlich anmutendem Kostüm, der einen Brief in Auftrag hat. Er reitet zwischen hoch gewachsenen und abgeschlagenen Bäumen in der Abenddämmerung. Auf einer anderen Leinwand der verzweifelt weinende Reiter am Feuer.  Ein schwarzes, pelziges Gesicht mit zwei großen Augen und breitem Mund schwebt zwischen den Bäumen. Es fragt nach dem Pferd, ob es ihm weggenommen wurde, im Dialog zwischen den Beiden bleibt vor allem ein Satz im Gedächtnis: Du kannst die Zukunft ändern, es ist nicht zu spät. Eine andere Leinwand zeigt einen langen Stollengang, auf der dahinter taucht immer wieder ein zwei dimensional animiertes Rabenprofil mit riesigem menschlichem Auge auf, das im Schnabel eine augenscheinlich animierte Blume trägt. Und immer wieder der Kopf eines weißen Pferdes, der sich dreht, verformt. Eine Narration lässt sich vermuten und nicht entschlüsseln.

Die Texttafel zeigt Ausschnitte von Briefen des 15. Jahrhunderts. Arbeiter eines Salzbergwerkes schreiben an den Herren, dazwischen Texte, die in ihrem hoch intellektuellen, religiös-mystischen oder naturwissenschaftlichen Inhalt schwer zugänglich sind. Der Ausstellungstext des Hamburger Bahnhofs schreibt:  In der für die Ausstellung im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin entstandenen Mehrkanal-Videoinstallation The Demon’s Brain befasst sich Agnieszka Polska mit der ethischen Frage, wie der*die Einzelne angesichts einer überfordernden Gegenwart gesellschaftliche Verantwortung übernehmen kann.(…)“ (https://www.smb.museum/museen-und-einrichtungen/hamburger-bahnhof/ausstellungen/detail/agnieszka-polska-the-demons-brain.html) Es bleiben mindestens eindrückliche Bilder, die Déjà-vu artige Erinnerungen hervorrufen und noch Tage später im Kopf umhergeistern.