PORTRAIT MAL ANDERS

EINE VERMITTLUNGSSITUATION VON JESSICA BERNECKER, THERESA EINSIEDEL, JOHANNA MUTH UND MARIE MÜLLER


1. Verortung

Wenn wir einem Menschen oder einem Tier ins Gesicht sehen, geschieht mit uns etwas ganz anderes, als wenn wir einen Gegenstand oder eine Landschaft betrachten. Denn beim Blick in ein anderes Gesicht entsteht ein An-Blick im Doppelsinn: Nicht nur wir blicken in oder auf das Gesicht, sondern es blickt uns auch umgekehrt von sich aus an. (Sowa/Uhlig 2007, S. 4)

Zwei Blicke begegnen sich und wir sprechen von „Angesicht zu Angesicht“ (Sowa 2003, S. 4). Unsere Wahrnehmung konzentriert sich auf die kommunikative Korrespondenz mit dem figürlich-menschlichen oder tierischen Gegenüber und ist fokussiert auf die Begegnung mit der leiblichen Präsenz des Anderen (Sowa/Uhlig 2007, S. 4).

Im Portrait gestalten wir unsere Interpretation dieses interpersonalen Erlebnisses. Generell kann man sagen, dass das Anfertigen von Portraits eine anthropologische Konstante in vielen Kulturen darstellt. Das Gesicht steht hierbei häufig im Mittelpunkt – gilt es doch gleichsam als öffentliches Display unseres Charakters, welches konzentrierte Informationen zum Lesen und Kommunizieren bereithält (ebd.).

Als „Attraktor interpersonaler Begegnung“ oder „Projektionsfläche eines darin verkörperten Inneren“ ist das Portrait in der europäischen Kunst eines der zentralen Genre und sollte somit auch im Kunstunterricht eine wichtige Rolle spielen (ebd.).

Nicht in allen Kulturen ist das Portraits so ausdifferenziert vorzufinden wie in Europa. Die Wurzeln dieser künstlerischen Ausdrucksform sind vor allem in der europäischen Neuzeit und Moderne zu finden und entwickelten sich parallel zum geistigen Verständnis eines einmaligen Individuums (ebd.). Neben dieser Ausdifferenzierung zwischen Person und Persönlichkeit sowie der interpersonellen Begegnung ist es auch lohnenswert, einen Blick auf die bildpragmatische Dimension (Sowa 2004) der Verwendung von Portraits zu werfen. Unter dieser Fragestellung offenbaren sich kulturelle Herstellungs- und Verwendungszusammenhänge, in denen Portraits auftreten können. Beispiele hierfür findet man auf Personalausweisen, Titelseiten von Magazinen, Fahndungsfotos, auf Wahlkampfplakaten, Karikaturen und nicht zuletzt in der Kunst.

Als Beispiele für „klassische Portraits“ können Dürer, Rembrandt oder Goya genannt werden. Daneben gibt es moderne Ansätze in Form von Videoinstallationen von Bruce Nauman oder synthetisierte Portraitbilder, die mithilfe spezieller Computersoftware erstellt werden können (ebd.).

In der neuzeitlichen europäischen Kunstgeschichte findet man in Portraitdarstellungen eine Vielzahl von verschiedenen Interpretationsformen von Individualität wieder. Neben unserem Gesicht gibt es viele Faktoren, die teilweise vom Individuum gesteuert und gestaltet werden können, wie Mimik und Habitus, aber auch attributive Schichten, die von dem*r Künstler*in genutzt werden, um eine Aussage über den*die Portraitierte*n zu machen. In komplex arrangierten Portraits erscheint die Person so in einem Gesamteindruck ästhetischen Daseins. Neben der Darstellung eines Gesichts gibt das Portrait also auch Auskunft über zur Person gehörende Attribute, zu ihrem Lebensraum oder zieht historische Parallelen (ebd., S.5).

Im Prozess der kulturellen Modernisierung hat sich dieser Portraittypus im Alltag durchgesetzt. Dazu hat vor allem die Fotografie beigetragen und damit die Auffassung, dass die Identität einer Person am eindeutigsten durch ihr „direktes Abbild“ repräsentiert wird (ebd.).

Außerdem finden wir Bildkonzepte der spätmodernen europäisch-amerikanischen Avantgardekunst, die sich durch Dekonstruktion, Täuschung und Deformierung des Portraits vom klassischen Portrait abwendet (Künstler*innen: Francis Bacon, Arnulf Rainer, Cindy Sherman), um die Unmöglichkeit personaler Identität vorzustellen. In der Gegenwartskunst lässt sich trotz dieser dekonstruktivistischen Ansätze eine Rückkehr zum realistischen Portrait beobachten (z. Bsp. Rijneke Dikkstra in der Fotografie oder Lucian Freud in der Malerei) (ebd.).

Aus kunstpädagogischer Sicht bietet das Portrait vielfältige Lernchancen. Dieses Genre kann im Drehpunkt zwischen analytisch-erkennender, emotional-ausdruckhafter und existenziell-spiritueller Analyse der eigenen Person, aber auch in Beschäftigung mit anderen Individuen und Kulturen bestehen (ebd., S. 6).

Prinzipiell spielt die Auseinandersetzung mit der Darstellung des Gesichts eine entscheidende Rolle in der bildnerischen Entwicklung von Heranwachsenden. So ist der Mensch bei den meisten Kleinkindern das erste identifizierbare Schema, was sich aus den Kritzelergebnissen entwickelt. Die Darstellung von Menschen ist sozusagen „natürlicherweise“ im Fokus der Wahrnehmungs- und Darstellungsbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen verankert. Der Weg zu einer vollends kulturalisierten Form des Portraits ist allerdings sehr mühsam und scheint per se für viele verschlossen. Die Auseinandersetzung mit einem real begegnenden Gegenüber scheint hierbei als „realistischer Impuls“ nötig (ebd., S.6).

Doch wie kann dieser kunstpädagogische Impuls aussehen?

2. Intention

Die Vermittlungssituation geht nicht von einer bestimmten praktischen Methode aus, sondern setzt sich aus verschiedenen Übungen zur Fremd- und Selbstwahrnehmung zusammen. Diese bieten den Studierenden Anreize für die vielfältige Auseinandersetzung mit Gesicht und Portrait – Themen, die sich bereits seit Jahrzehnten in der künstlerischen und kunstpädagogischen Praxis in Malerei, Zeichnung, Video etc. wiederfinden (vgl. ebd. S. 6).

Dabei geben die Übungen nicht nur Hilfestellungen für die eigene Annäherung und den Abbau von Hemmschwellen, sondern zeigen auch Möglichkeiten für die zukünftige Vermittlung mit Schüler*innen auf. Für Heranwachsende steht die Wahrnehmung und Darstellung von Mensch und Identität und in diesem Zusammenhang besonders das Gesicht im Vordergrund (vgl. ebd.). Hiermit bietet das Gesicht auch aus kunstpädagogischer Perspektive viele Lern- und Anknüpfungsmöglichkeiten im Alltag, die im Workshop angesprochen und im Nachfeld weiter reflektiert werden können.

Gerade an diese Situationen aus dem Alltag erinnert das Speeddating zu Beginn der Vermittlungssituation. Die kurzen Runden mit wechselnden Partner*innen sind der Schnelllebigkeit nachempfunden, mit der wir uns oftmals Personen in unserem Umfeld annähern. Dieser Teil des Workshops weist, wie auch das gemeinsame Experimentieren im Praxisteil, auf die soziale Komponente des Portraitierens hin. Gleichzeitig geben die Übungen Impulse, die einen offenen und lockeren Umgang mit der Portraitpraxis ermöglichen, die sonst schnell eine Blockade verursachen kann. Es wird dazu angeregt, das Verhältnis zwischen „Aussehen“ und „Hinsehen“ zu reflektieren und kritisch zu hinterfragen (vgl. ebd. S. 9).

Hierfür erfordern die aufeinanderfolgenden Runden verschiedene Wahrnehmungsarten mit den menschlichen Sinnen. Die Assoziationskette erprobt die Annäherung über die Stimme. Stimmhöhe, -lautstärke, Prosodie und andere paraverbale Aspekte formen eine subjektive Vorstellung vom Charakter des Gegenübers, ohne dessen Aussehen visuell zu erfassen. Die Konzentration auf die akustischen Reize umfasst auch inhaltliche Erkenntnisse: welches Wort wählt der Partner oder die Partnerin als nächstes aus und warum? Unbewusst werden Vermutungen über die Verbindungen der genannten Wörter angestellt. Interessant ist an dieser Stelle auch die Schulung des Gehörs: trotz des umgebenden Stimmengewirrs kann man sich innerhalb kurzer Gewöhnungszeit auf die eine einzigartige Stimme konzentrieren, die man gerade wahrnehmen möchte.

Das Spiegelbild spricht die visuelle und haptische Wahrnehmung an, die sowohl über Fremd- als auch über Eigenerfahrung abläuft. Während man die Bewegungen des*r Partner*in wiederholt und gleichzeitig lenkt, erfährt man etwas über sie*ihn und sich selbst. Die Erkundung zeigt sich somit als gemeinsames Erfahren, worin auch eine Hemmschwelle für die Ausführenden liegen kann.

Die äußeren Ebenheiten und Unebenheiten des Gesichts werden bewusster erfühlt als beim bloßen Blick in den Spiegel oder beim Betrachten einer anderen Person. Das aufmerksame Beobachten des Gegenübers ist allerdings Teil der Eye-to-Eye-Runde. Das Näherkommen und Eintreten in die Privatsphäre werden durch intensives Anschauen, Anstarren, verursacht. Trotz der knappen Zeit von zwei Minuten bricht so die Flüchtigkeit des Alltags auf, in dem es oft als unhöflich gedeutet wird, Mitmenschen zu lange starr anzusehen. Eine weitere Verfremdung wird durch die komplette Stille im Raum gewährleistet, die alle anderen Sinneswahrnehmungen außer den visuellen möglichst geringhalten sollen. Diese zum Teil unangenehme Situation gilt es auszuhalten, das eigene Verhalten und das des Gegenübers zu beobachten und zu deuten.

Bei der Face-to-Face-Phase wird neben den visuell-haptischen Erfahrungen auch das Gedächtnis der Personen mit einbezogen. Dieser Part ergibt sich als Konsequenz aus den vorherigen Übungen, die sich vor allem auf die Rezeption konzentrieren. Face-to-Face erinnert von den bisherigen Aufgaben am ehesten an „klassische“ Portraitsituationen. Erweitert wird sie jedoch um die Frage, wie viel Zeit man benötigt, um sich markante und charakteristische Gesichtszüge einzuprägen, um sie nicht nur erkennen, sondern auch wiedergeben zu können. Hierfür wird die aufmerksame Rezeption erfordert, die die Gesichtsform des Partners oder der Partnerin studiert, bevor man sich auch produktiv betätigt, um die Erkenntnisse wiederzugeben.

Die eigene Einschätzung und Verortung der Arbeiten erfolgt über die Positionslinie zwischen den beiden Stuhlreihen. Das Erlebte wird zunächst im Kopf, dann in der Gruppe ausgewertet und reflektiert. Der Austausch mit den anderen Teilnehmer*innen zeigt, wie unterschiedlich Wahrnehmung erfolgen kann und wird durch Impulsfragen gemeinsam zusammengefasst.

Anschließend wird das Rätsel um die „digitale Eintrittskarte“ der Fotografien vom Seminarbeginn in Form des Durchschnittsgesichts aufgelöst. Diese stellt eine Art transparente Collage der Gesichter dar, um künstlich ein Gesicht zu kreieren. Dabei werden Verbindungen zwischen allen Gesichtern der Seminarteilnehmer*innen gezogen und Gemeinsamkeiten hergestellt. Dieses Verfahren wird nicht nur von Künstlern wie Mike Mike, sondern auch in anderen Bereichen genutzt. Für eine vielfältige und interdisziplinäre Betrachtungsweise werden während des Inputs Beispiele aus anderen Richtungen als der künstlerischen vorgestellt: Kriminologie, Überwachung, Chirurgie uvm. Dem Gesicht kommt in unserer Gesellschaft eine große Bedeutung zu, die viele verschiedene Funktionen und Annäherungsweisen ermöglicht. Um den Fokus wieder auf künstlerische Strategien zu lenken und den Bezug zum Unterricht herzustellen, werden in einem zweiten, knapper gehaltenen Input ausgewählte KünstlerInnen und deren Verarbeitung des Gesichts angesprochen. Im Vordergrund steht allerdings die praktische Arbeit der Studierenden.

Diese erfolgt in einem sehr offenen Aufgabenkonzept mit zeitlichen und materiellen Vorgaben. Das experimentelle Erproben mit dem Material und das Ausloten von Möglichkeiten sind das Ziel dieses Workshop-Teils. In den drei Gruppen werden exemplarisch die Verfremdungsstrategien Projektion, Verhüllung und Maske vorgegeben, die häufig auch in Verbindung mit dem Gesicht genutzt werden. Jede Gruppe hat eine eigene Betreuerin, die Fragen vor Ort (Seminarraum, Kellerraum) beantworten, möglicherweise aber auch Impulse für die Weiterarbeit einbringen kann. Fragen der Umsetzung sollten aber gruppenintern geklärt werden, um die Ergebnisse nicht zu stark zu beeinflussen.

Die Materialien wurden aus unterschiedlichen Verwendungsbereichen des Alltags oder der künstlerischen Auseinandersetzung ausgewählt: Servietten, Penatencreme, Spraydosen, Plexiglas, Projektor … In Anbetracht der Zeit und der Reduktion erhält jede Gruppe jedoch nur eine Auswahl an Gegenständen, mit denen sie sich dafür intensiver auseinandersetzen sollen.

Die Prozesse werden fotografisch festgehalten – zum einen als Dokumentation, zum anderen als Präsentationsform für die Ergebnisse der Arbeit. Die Wahl der Fotografie hat jedoch nicht nur pragmatische, sondern auch inhaltliche Gründe: schon seit Langem besteht die Auffassung, die Identität einer Person werde durch ein Foto als „direktes Bild“ repräsentiert (vgl. ebd. S. 5). Dieses Bild wird jedoch durch die Verfremdungsverfahren verändert. Eine schnelle und relativ unkomplizierte Präsentation der Ergebnisse erfolgt über die Internetplattform Padlet, die alle Studierenden als App über ihre Smartphones erreichen können. Aus diesem Grund werden auch hauptsächlich die Handykameras zum Fotografieren genutzt. Die von uns mitgebrachten Kameras werden zwar auch für die Seminarergebnisse, vorrangig aber zur Dokumentation des Workshops eingesetzt.

Die Fotografien der Padlets sollen keine endgültigen Ergebnisse darstellen, sondern zeigen den Prozess und Zwischenschritte des Arbeitens. Dennoch liegt ihnen ein von den Gruppenmitgliedern erarbeitetes Konzept zugrunde, um nach dem Experimentieren auch künstlerische Strategien anzuwenden. Die Padlets bieten Gesprächsanlass für die gemeinsame Auswertung im Anschluss und Diskussionsgrundlage über die ästhetische Qualität der Bilder. Über Möglichkeiten des Weiterarbeitens und den schulischen Einsatz der Workshopanreize wird zum Abschluss der Vermittlungssituation beratschlagt, um das Potenzial für das eigene künstlerische und kunstpädagogische Handeln festzuhalten und die Vermittlungssituation zusammenzufassen.

3. Konzept

Die Konzeption der VMS entstand nach der reflektiven Hinterfragung eigener Portraiterlebnisse – im Schulunterricht (Bleistift, Spiegel und weißes A4-Format), in künstlerischen Auseinandersetzungen während der universitären Praxis sowie der Sehgewohnheiten im alltäglichen Leben. Wie kann ich Portrait unterrichten? Wie können wir Studierende, und später Lernende, an dieses weite Feld heranführen? Wie können wir ebendieses Feld eingrenzen, abstecken und gliedern – um es letztendlich vermitteln zu können?

Gern wollten wir multiple Herangehensweisen an den Portraitunterricht entwickeln, anbieten und mit unseren Workshopteilehmer*innen ausprobieren und reflektieren. Daher liegt der Fokus im Konzept auf den mehrteiligen Übungen, welche mit differenzierendem Materialaufwand in einer multiperspektivischen Annäherung an das Thema münden sollen und im Folgenden aufgeschlüsselt werden.

Handouts wurden alle auf neun Zentimeter große Quadrate gedruckt, um dieses problemlos ins KEPP einfügen zu können


I. HINWENDUNG:

Zu Beginn des Workshops werden alle TeilnehmerInnen vor einer weißen Wand mittels einer Kamera portraitiert, was für Irritationen sorgen soll. Dies ist die digitale Eintrittskarte für die erste Übung: das Speeddating.

MATERIAL:

  • Kamera + Stativ

II. EINSTIEG // SENSIBILISIERUNG:

Stühle, welche sich in zwei Linien einander gegenübergestellt sind, bilden den Raum der ersten Annäherung. Verwendet wird die Speeddating-Methode, bei welcher sich zwei Teilnehmer*innen gegenübersitzen und miteinander interagieren. Jeder Arbeitsschritt dauert ungefähr zwei Minuten und wird durch eine*n Moderator*in kommuniziert und angeleitet, während der Rest des Teams dokumentiert. Nach jeder Runde rutscht eine Reihe einen Stuhl weiter, sodass ein Partnerwechsel gewährleistet ist.

Während der ersten Runde der Speeddatingphase (Assoziationskette) werden Teilnehmer*innen dazu angehalten, die Augen zu schließen und sich ihrem gegenüber mittels des Sprachmediums anzunähern. Ein Wortimpuls, auf welchen assoziativ reagiert werden soll, wird von den Workshopleitenden gereicht.

Hier wird bereits die erste Barriere sichtbar, welche das fotografische Abbild zu Beginn nicht überwinden kann: die fehlende Stimmlichkeit in der Wiedergabe auf Bildschirmen und Papier.

Runde Zwei nennt sich Spiegelbild. Eine Reihe der Speeddatepartner fährt das eigene Gesicht mit den Fingern erkundend und ertastend ab. Der gegenübersitzende Partner ahmt diese Erkundungsfahrt nach. Nach einer Minute wechselt die Anleitung der Forschungsbewegungen auf die gegenüberliegende Sitzreihe.

Mittels der folgenden Eye-to-Eye Phase in der dritten Runde werden die visuellen Eindrücke des Gesichtes fokussiert. Während sich die TeilnehmerInnen ohne zu lachen, mit neutraler Mimik in die Augen schauen, vergehen zwei Minuten der rein visuellen Wahrnehmungsphase. Gedanken und Gefühle, welche bei der Betrachtung auftreten, werden in den darauffolgenden zwei Minuten auf Papier festgehalten (welches sich mitsamt Zeichengeräten unter den Stühlen befindet).

Runde Vier weitet den Blick mit dem Titel Face-to-Face auf den immer noch neutral mimischen Gesichtsbereich aus. Ziel ist es, sich das Gesicht des Gegenübers einzuprägen. Im nächsten Schritt drehen sich die Speeddater voneinander weg, um aus dem Gedächtnis mittels einer Linie das Gesicht des anderen zu zeichnen. Ebenso wie in Runde drei findet hier ein Transferprozess statt, bei dem ausgetestet werden soll, welche Aspekte erinnerungs- und darstellungswürdig sind.

Das Speeddating wird im Anschluss anhand einer Positionslinie reflektiert (Strahl, welcher von positiv zu negativ verläuft). Impulsfragen helfen den Teilnehmer*innen beim Austausch und Positionieren.

MATERIAL:

  • Zeichenpapier
  • Zeichenmaterial (Bleistift, Kohle, Kreide)
  • Kreppklebeband

III. VERMITTLUNG

Nun offenbart sich der Zweck des Portraitfotos zu Beginn: das Seminar-Durchschnittsgesicht (angelehnt an Mike Mike) wird betrachtet, bei dem alle Teilnehmerfotos transparent übereinandergelegt wurden. Besonders spannend dabei war die Reaktion, da jeder in der neu erschaffenen Person ein Gesicht aus dem Umfeld wiedererkannte – oder das Seminargesicht Ähnlichkeit mit Freunden hatte.

Es folgt ein kurzer Input über das Gesicht, welcher Themen wie biometrische Passbilder, Überwachung, Emotionen, Mikroexpressionen und Faception schaffte Einblicke in die aktuellen Forschungen zum Thema Gesicht – inspiriert von der Sonderausstellung “Das Gesicht – Eine Spurensuche” des Hygienemuseums Dresden.


IV. KOMPLEXE KÜNSTLERISCH-PRAKTISCHE AUFGABE

Für die komplexe Aufgabe werden per Los drei Gruppen (an verschiedenen Orten arbeitend) eingeteilt, welche sich mit verschiedenen Materialien und Impulsstichworten mit folgenden Aufgaben auseinandersetzen:

  1. Experimentiert mit dem Material.
  2. Entwickelt ein Konzept, um euer Gesicht spannungsvoll umzugestalten.
  3. Ladet eure Ergebnisse im Padlet hoch.

Impulsworte:

Bildet ab / Verfremdet / Verhüllt / Offenbart / Deckt auf / Bewegt / Collagiert / Fotografiert / Filmt / Inszeniert / Modelliert / Performt / Verdichtet / Versteckt / …

Die differenzierten Gruppennamen und Materialien bei gleichbleibenden Impulsworten stellen ein Experiment dar. Die Workshopleitenden stehen für Fragen zur und fotografischen Dokumentation Verfügung, während die Lösung individuell innerhalb der Gruppen organisiert und getestet werden kann.

Gruppe 1 // PROJEKTION (Ort: Keller)
MATERIAL:
– ein alter Projektor – verschiedene Folien – Taschenlampen – Transparentpapier – euer Smartphone

Gruppe 2//VERHÜLLUNG (Ort: Workshopraum)

MATERIAL:
– Rohrzucker – Linsen – Servietten – Schminke – Mehl – Reis – Granulat – Kajal – Klebeband – Knete – Weißcreme – …

Gruppe 3//MASKE (Ort: Workshopraum)

MATERIAL:

– ein Beamer – http://avatarmaker.com/  – Laptops – eine Scheibe – euer Smartphone – Permanentmarker


V. KÜNSTLER*INNENBEISPIELE

Im Anschluss an die eigene praktische Arbeitsphase der*die Workshopteilnehmer*innen werden etablierte Künstlerbeispiele vorgestellt – welche beispielsweise Eva und Franco Mattes oder Ana Maria Mendieta beinhalten. Somit kann der Horizont der eigenen Kreativität und Handlungsweise auf die exemplarischen Alternativlösungen etablierter bezogen und abgeglichen werden, was eine Horizonterweiterung mit sich zieht.


VI. PRÄSENTATION // REFLEXION // FEEDBACK

Nach Ablauf der selbstständigen, künstlerisch-praktischen Arbeitszeit und einer Pause finden sich alle drei Gruppen zurück im Hauptraum des Workshops. Die Padlets werden mit dem Beamer veranschaulicht, sodass jede Gruppe erklären kann, was sie getan hat und wie die Ergebnisse realisiert wurden. Gefühle, Unsicherheiten und Fragen, welche beim praktischen Arbeiten entstanden sind, werden gemeinsam diskutiert, besprochen und erläutert.

Impulsfragen regen zur Reflexion an: Haben die Teilnehmer etwas Neues über sich gelernt? Was war anders/neu an den bisherigen bekannten Portraitvermittlungen? Welches Potenzial haben die Materialien und Überlegungen im Schulkontext, wie können sie einbezogen werden?

 

4. Prozess und Ergebnisse

I. SPEED-DATING

 In den verschiedenen Phasen des Speed-Datings, gab es verschiedene Erkenntnisse.

Die erste Runde, die Assoziationskette, bot einigen Teilnehmer*innen am meisten Aufschluss über das Wesen ihres Partners, da durch die Assoziationen ganz individuelle und persönliche Wortketten entstanden. Den Teilnehmer*innen fiel auf, dass der Hörsinn hier extrem in den Vordergrund trat und man nach kurzer Zeit die anderen Stimmen ausblendete und man die Stimme des Partners herausfilterte.
In der zweiten Runde, dem Spiegelbild traten dann Tast- und Sehsinn in den Vordergrund. Hier waren sich die TeilnehmerInnen uneinig, ob die eigene Berührung des Gesichts unangenehm oder für sich selbst offenbarend sei.

Für die meisten Teilnehmer*innen war die dritte Runde, Eye-to-Eye, die anstrengendste, da das 2-minütige in-die-Augen-Schauen hohe Konzentration und damit ein hohes Maß an Anstrengung erforderte. Es stellten sich im Nachhinein Fragen nach persönlicher Grenzüberschreitung, Intimität, Anspannung und Provokation. Sich tief in die Augen zu sehen führte einige TeilnehmerInnen zu sich selbst und den eigenen Gedanken zurück. Im Anschluss entstanden beim Verbildlichen der erlebten Emotionen unterschiedliche abstrakte Grafiken mit Skizzencharakter. Die Grafiken reichten von wirren Linien und verdichteten Strukturen bis zu geordneten und klaren Formen.
In der letzten Runde, Face-to-Face, wurden die Partnergesichter auf eine neue Weise ganz objektiv mit ihren Proportionen, Formungen und kleinsten Merkmalen wahrgenommen. Diese Übung fanden einige TeilnehmerInnen am aufschlussreichsten, da sie eine sehr sachliche Art des Betrachtens sei. Die Gesichter wurden daraufhin auf Gedächtnisbasis linear grafisch dargestellt.

Insgesamt war das Speed-Dating eine sehr abwechslungsreiche und performativ geprägte Art, sich an Gesicht und Portrait anzunähern. Verschiedene Sinne wurden beansprucht, was einen neuen Zugang zum Gesicht des Anderen, aber auch zur eigenen Person ermöglichte. Je nach Übung konnte sich die Wahrnehmung auf subjektive Dinge, wie Emotionen oder Charakter oder objektive Dinge, wie äußerliche Merkmale, verändern.

II. KOMPLEXE KÜNSTLERISCH-PRAKTISCHE AUFGABE

Die drei Gruppen haben alle vorwiegend mit dem Medium Fotografie gearbeitet, um ihre Prozesse zu dokumentieren. In der Gruppe Projektion experimentierten die Teilnehmer*innen mit verschiedenen Lichtsituationen und gewannen schnell einen Überblick über die verschiedenen Wirkungen des Lichts auf das Gesicht. Das Gesicht des Modells trat in seiner Identität zurück und wurde als Projektionsfläche / Material benutzt. Neben den Fotografien, die die Experimentierphase dokumentierten, stellte die Gruppe einen 5-sekündigen Animationsfilm mithilfe der App Lapse it her, in welchem Licht und Farbwirkungen deutlich werden. Das Gesicht des Modells wurde z. B. silhouettenhaft vom Licht gezeichnet, einige Partien wurden überbetont und optisch vergrößert, Man spielte mit Schatten und Farben. Um dort mit der Ausarbeitung eines künstlerischen Konzepts weiterzuarbeiten, benötigt man mindestens eine weitere Zeiteinheit.

 

Die Gruppe Maske entwickelte zuerst figürliche, dann abstrakte Überlagerungen des Gesichts dank einer Plexiglasscheibe, Stiften und Bronzespray. Hier kamen zudem Zufallseffekte, wie Lichtbrechung und Schattenwurf an der dahinterliegenden Wand dazu, was die Fotografien / Installationen räumlicher wirken ließ. Folgend entwickelten die TeilnehmerInnen je einen Avatar an Laptops. Die Avatare gestalteten sie nach dem Aussehen des Partners. Bei der Projektion wurde mit Verschiebung, Verzerrung und Überlagerung gespielt.

 

Die Frage der persönlichen Grenzüberschreitung wurde in der Gruppe Verhüllung noch einmal aufgegriffen. Darf ich das Gesicht meines Partners aktiv gestalten? Was wird unangenehm? Wen lasse ich an meinem Gesicht arbeiten? Die TeilnehmerInnen haben sich sowohl selbst als auch ihre Gruppenmitglieder gestaltet. Sie nutzten Haptik und Eigenschaften der Materialien gezielt, um das Gesicht zu Verfremden oder zu erweitern. Verfremdet oder transformiert? Wo war der Unterschied? In diese Richtung wären weitere (Er-)Forschungen möglich.

Allgemein wurden die Ergebnisse aller Gruppen auf 3 verschiedenen Padlets präsentiert. Wichtig ist hier, mit den Teilnehmer*innen nochmal gezielt einige Ergebnisse aufzugreifen und näher zu betrachten. Wo sind gute Ansätze oder Bildstellen? Welche Fragen und Assoziationen kommen auf? Welche künstlerischen Konzepte zur weiteren praktischen Arbeit können entwickelt werden? Fragen, die sich unbedingt im Sinne eines individuellen, subjektiven, ästhetischen Verständnisses stellen sollten. Rundum bieten die Ergebnisse des Workshops eine Vielfalt an Ansätzen für eine praktische Weiterarbeit und sind zu verstehen als serielle Dokumentationen einer Experimentierphase.


LITERATUR

Sowa, Hubert (2003): Das Portrait. Menschendarstellung in Kultur und Kunst. Stuttgart, Leipzig.

Sowa, Hubert (2004): Bildhandeln, Bildgebrauch, Bildspiel. Bildpragmatische Aspekte der Kinderzeichnung. In: Klaus Peter Busse (Hg.): Kunstdidaktisches Handeln. Dortmund.

Sowa, Hubert/ Uhlig, Bettina (2007): “Porträtieren” – der Blick ins Gesicht des Anderen. Aktuelle kunstpädagogische Potenziale einer dialogischen Bildpraxis. In: Kunst + Unterricht, Heft 317, S. 4-11.