EINE VERMITTLUNGSSITUATION VON KARL LAURINAT U. A.
TEXT: KARL LAURINAT
1. ) Annäherung an das Künstlerpaar Mattes
Bei dem Versuch, sich dem Künstlerpaar Mattes zu nähern, begegnet man nicht zwei Akteur*innen. Man trifft auf eine Vielzahl von Identitäten und Pseudonymen: Darko Maver, Luther Blissett, 0100101110101101.org und Zoe, nicht zuletzt auf Eva und Franco. Ebenso unüberschaubar verhält es sich mit ihren Arbeitstechniken, zu welchen neben Net-Art und Performances auch Skulpturen und Drucke gehören. Künstler_innen oder Provokateur_innen, Aktionist_innen oder Hacker_innen? Vermutlich ein bisschen von allem.
Die Verortung der künstlerischen Position fällt im ersten Moment schwer, wozu das Fehlen von Stellungnahmen und Interviews beiträgt. Auch geografisch gesehen: Trotz eines festen Wohnsitzes in Brooklyn (New York), pflegen sie starke Beziehungen zur Künstler_innenszene in Europa. Auf ihrer Internetseite 0100101110101101.org, die das Produkt einer früheren Arbeit darstellt, wird das Biografische lediglich in dem Satz „Eva and Franco Mattes (b. 1976, Italy) are an artist duo based in New York.“ (Mattes, E./Mattes, F.: 0100101110101101.org. ABOUT) abgehandelt.
Anstelle sich selbst in das Zentrum ihres Schaffens zu rücken, beziehen sie die Betrachter_innen als essentiellen Teil der Werke mit ein. Ganz bewusst spielen sie damit, die Rezipient_innen in scheinbar vertraute, doch unsichere und fiktive Umgebungen zu versetzen und ihre Reaktionen zu einem unablässigen Bestandteil der Arbeiten zu verwandeln, getreu dem Motto: „Art is a lie we want to believe in.“(Quaranta 2009, S.49) Ein großer Teil ihres künstlerischen Schaffens findet im virtuellen Raum des Internets statt, in dem wir uns tagtäglich ganz selbstverständlich, frei und bedenkenlos bewegen. Die Künstler_innen dringen auf subversive Art an die Betrachter_innen heran, rütteln an von der Gesellschaft sicher geglaubten Strukturen und halten ihr einen Spiegel vor.
Die künstlerische Strategie ist geprägt von Radikalität, um ihr Publikum, das tagtäglich mit außergewöhnlichen Ideen und Bildern konfrontiert ist, auf ihre Arbeiten aufmerksam zu machen. Der Begriff der Grenzüberschreitung zeichnet sich dabei als ein wesentliches Merkmal ihres Schaffens ab. Eine dieser Grenzen, derer sich das Künstlerpaar bedient, ist jene zwischen Legalität und Illegalität. Über das bewusste Heraustreten aus dem gesetzlichen Rahmen und Eintauchen in die Kriminalität erregen ihre Arbeiten hohe Aufmerksamkeit, allerdings mussten sich die Künstler_innen in Konsequenz bereits mehrfach Strafprozessen aussetzen.
Diese Vorgehensweise lässt sich insbesondere an ihrer Arbeit No Fun (2010) nachvollziehen, dem Video einer Online-Performance, die die Reaktionen von Personen auf einen authentisch inszenierten Suizid Franco Mattes‘ auf der populären Videochat-Plattform Chatroulette zeigt. Dabei können die Chatpartner selbst entscheiden, ob und wann sie sie die Verbindung unterbrechen. Die räumliche Distanz zwischen den kommunizierenden Partnern wird durch die visuell-akustischen Informationen scheinbar überwunden, jedoch reagieren die Betrachter_innen darauf unterschiedlich, was in diesem provokanten, überspitzten Szenario besonderen Ausdruck findet. Die Reaktionen reichen von einem Polizeinotruf über simples Lachen bis hin zu den „Selbstmord“ unterstützenden Beleidigungen. In rabiater Weise wird dem*der Werkbetrachter*in das unsoziale Online-Verhalten und die Einsamkeit im virtuellen Raum aufgezeigt sowie die Frage nach der Grenze zwischen Realität und Fiktion aufgeworfen.
Darüber hinaus wird verdeutlicht, dass die Chatpartner_innen als Betrachter_innen der Online-Performance mit dem Künstler interagieren und ihr Handeln das Werk maßgeblich bestimmt. Der*die Rezipient*in des Werkes No Fun hingegen, also des Videos, welches die Performance und die Reaktionen darauf dokumentiert, hinterfragt möglicherweise, wie er/sie selbst reagieren würde, kann jedoch keinen direkten Einfluss darauf nehmen, sondern es lediglich wahrnehmen.
Ähnlich verhält es sich mit Emily’s Video (2012), einer Zusammenstellung von Reaktionen vieler verschiedener Freiwilliger auf ein schockierendes Video, das Aufnahmen aus dem Darknet zeigt. Das Video wurde später durch die Künstler*innen vernichtet. Das Werk wird auf einem zweigeteilten Monitor gezeigt, auf dem der kleinere Teil die Reaktionen zeigt, während der andere schwarz bleibt. Auch hier stehen die Reaktionen der Betrachter*innen im Mittelpunkt und beeinflussen maßgeblich die Wirkung auf den*die Rezipient*in. Diese*r wird in eine merkwürdige Situation versetzt, in welcher er/sie ein Video mit Personen betrachtet, die wiederum selbst ein Video schauen. (Mattes, E./Mattes, F.: 0100101110101101.org. Emily’s Video) Auch hier bleibt eine Interaktion zwischen Künstler*in und Rezpient*in aus. Beide Arbeiten sollen den Ausgangspunkt der Vermittlungssituation bilden.
2. Fachdidaktische Begründung der Vermittlungssituation
Von dieser eher schwer zu greifenden künstlerischen Position ausgehend, kann das Ziel der geplanten Vermittlungssituation nicht sein, einen Gesamtüberblick über das Werk Eva und Franco Mattes‘ zu schaffen, sondern es vielmehr perspektivisch genauer zu beleuchten. Die Grundlage für die Auseinandersetzung bilden die Werke No Fun und Emily’s Video, wobei insbesondere das Verhältnis zwischen Künstler*in, Werk und Rezipient*in sowie die besondere, grenzüberschreitende Vorgehensweise des Künstlerpaaress betrachtet werden sollen. Es wurden diese Werke ausgewählt, da die Seminarteilnehmer*innen aufgrund des Gegenstandes der Kommunikation im digitalen Raum in kurzer Zeit über ihre eigenen Erfahrungen eine Beziehung zu der künstlerischen Position herstellen können.
Die Vermittlungssituation wurde strukturell in einen praktisch-experimentellen und einen theoretischen Teil gegliedert, in dem unter Betrachtung von Künstler und Künstlerin sowie ihrem Werk das Erlebte reflektiert wird. Im ersten Teil sollten keine Informationen zu Eva und Franco Mattes gegeben werden, um den Fokus der Student*innen auf die sinnlich-angeregten Erkenntnisse während der praktischen Erfahrung zu lenken. Zur Gewährleistung eines sinnstiftenden Einstieges und einer Sensibilisierung für das Thema der Vermittlungssituation, sollte eine Impulskette durchgeführt werden, in der die Seminarteilnehmer*innen erste Assoziationen zum Stichwort Online-Alltag gebildet werden.
Die Grundidee des praktischen Teils bestand darin, den beiden Werken nachempfindend menschliche Reaktionen auf digitalem Weg zu übertragen und ein mögliches interaktives Verhältnis zwischen Künstler*in und Betrachter*in zu überprüfen. Es war naheliegend, die Gruppe zu teilen, da so eine aktivere Teilnahme, größere Produktivität und mehr soziale Zusammenarbeit im Vergleich zum Frontalunterricht erwartet werden konnte (vgl. Schroeder 1975, S.67). Die Einteilung sollte über ein Losverfahren erfolgen, da im universitären Rahmen nicht auf eine Gruppenhomogenität geachtet werden muss. In Anlehnung an das Pseudonym 0100101110101101.org Eva und Franco Mattes‘ wurden Lose mit den Zahlen Eins und Null vorbereitet. Während sich die aus drei Student_innen bestehende Gruppe „Eins“ in einem Extraraum bewusst im digitalen Raum bewegt, sollten die restlichen Student*innen der Gruppe „Null“ dies im Seminarraum auf der interaktiven Tafel mitverfolgen sowie Assoziationen zum Gesehenen bilden. Unter Anbetracht des formalen Aufbaus von Emily’s Video sollten vorerst lediglich die Reaktionen der Student*innen gezeigt werden, wobei Eindrücke geteilt und Spekulationen auf das potentiell Gezeigte angestellt werden, welches darauffolgend hinzugeschalten wird.
Während zunächst die Idee bestand, in Anlehnung an No Fun ebenfalls eine Videochat-Plattform als Impuls zu nutzen, fiel die Wahl auf das Livestreaming-Portal YouNow, da es aufgrund seines befremdlichen Charakters vielfältigere Reaktionen bei den Student*innen gewährleisten würde. YouNow wirkt deshalb so eigentümlich, da Personen, hauptsächlich Jugendliche, in Echtzeit fremden, anonymen Zuschauer*innen direkte, intime Einblicke in ihr Leben gewähren. Diese können mit den Streamer*innen chatten und sie bewerten. Die Streamer*innen zeigen sich meist in den eigenen vier Wänden und reagieren auf die Kommentare der Zuschauer*innen, filmen sich aber auch beispielsweise beim Kochen oder Sport treiben. Es gilt: je kreativer der*die Streamer*in, desto mehr Likes und größer das Ansehen.
Die Anordnung des Arbeitsplatzes im Extraraum orientierte sich an dem Aufbau der Ausstellungsansicht von No Fun in der Galerie Caroll/Fletcher (London). Es sollte ein typischer Computertisch geschaffen werden, der die kleine Gruppe sofort in eine Arbeitsatmosphäre versetzt. In ästhetisch-anregenden, werkstattähnlichen Umgebungen kann ein möglichst hoher Erkenntnisgewinn erzielt werden. (vgl. Peez 2002, S.122) Auf dem Schreibtisch sollten außerdem die präzise formulierten Arbeitsanweisungen der Gruppe Eins montiert werden, um Unklarheiten während der Durchführung zu vermeiden. Die Student_innen werden aufgefordert, die auf dem Laptop geöffnete Webseite „YouNow“ zu erkunden und dabei das Problemfeld „Privatsphäre im digitalen Raum“ genauer zu betrachten.
Bei der Beobachtung der kleinen Gruppe durch die größere sollte dieses Verhältnis vergleichend zur Kommunikationssituation auf der Livestreaming-Plattform untersucht werden. Als Input wird ein vereinfachtes Kommunikationsmodell gegeben, um eine gemeinsame begriffliche Basis zu schaffen.
Um den Seminarteilnehmer*innen das radikale künstlerische Vorgehen Eva und Franco Mattes‘ zu veranschaulichen, sollte ein grenzüberschreitende Situation generiert werden. Daher sollte der Gruppe Eins nicht mitgeteilt werden, dass sie gefilmt und beobachtet wird, was eine bewusste Verletzung des Rechtes am eigenen Bild darstellt. Nach Zusammenführung der Gruppen und Besprechung der gewonnen Eindrücke folgt eine Diskussion über diese. Der zweite, theoretische Teil der Vermittlungssituation wurde angelegt, um einen knappen Einblick in das künstlerische Schaffen Eva und Franco Mattes‘ zu geben sowie die beiden Werke, anhand derer sich der praktische Teil orientierte, vorzustellen. Nach genauer Werkbetrachtung von No Fun sollte die Rolle des Rezipienten bei der Werkbetrachtung genauer untersucht und Parallelen zur praktischen Arbeit hergestellt werden.
3. Beschreibung der durchgeführten Vermittlungssituation
Während der als Einstieg in die Vermittlungssituation durchgeführten Impulskette bildeten die Student_innen Assoziationen, die eine teilweise negativ konnotierte Haltung gegenüber des Umgangs mit dem Internet offenbarten (z.B. „Zeitverschwendung“, „sinnlose Ablenkung“). In Anschluss an die Gruppeneinteilung mittels Losen offenbarten sich unsichere Fragen der Student_innen, unter anderem danach, ob die Lose bereits geöffnet werde dürften oder dies durch die Vermittelnden signalisiert werde.
Die im Seminarraum verbliebene Gruppe Null war aufgefordert, Assoziationen zu dem zu Sehenden zu verschriftlichen. Die Student*innen stellten fest, dass die Reaktionen der Kommiliton*innen variieren und sehr authentisch wirkten. Davon ausgehend wurde vermutet, dass sie die Gruppe Eins nicht wüsste, dass sie beobachtet werde. Auf die Frage hin, was die Gruppe Eins sähe, wurden Spekulationen hinsichtlich eines kontroversen Videos angestellt, da die Student*innen der Gruppe Eins mittlerweile miteinander diskutierten. Die Kameraposition wurde nebenbei unauffällig im Extraraum durch die Vermittelnden korrigiert.
Nach der Zuschaltung der Webseite im Seminarraum, wurden der Gruppe Null Informationen zur Webseite „YouNow“ gegeben. Die Student_innen tauschten nun weitergehende Gedanken, unter anderem zum Prinzip der Plattform, aus. Die Frage einer Studentin hinsichtlich der Legalität des geheimen Beobachtens wurde mit dem Hinweis auf ein späteres Aufgreifen abgewiesen. Währenddessen wurden bei der Gruppe Eins Vermutungen angestellt, beobachtet worden zu sein, woraufhin sie die Verbindung unterbrachen. Ohne von der Gruppe Null gesehen zu werden, erfüllten sie weiterhin ihren Arbeitsauftrag, die Internetseite zu erkunden sowie das Problemfeld Privatsphäre im digitalen Raum zu diskutieren.
In der Gruppe Null ging man davon aus, dass die Verbindung bewusst gestört wurde. Nichtsdestotrotz besprachen sie weiterhin das Erlebte. Als Input wurde ein vereinfachtes Kommunikationsmodell herangezogen, anhand welchem die Student_innen Kommunikationssituationen analysierten: Einerseits die Kommunikation zwischen Streaner*innen und Zuschauer*innen auf „YouNow“, andererseits in Bezug auf das Verhältnis zwischen den beiden Gruppen Null und Eins. Die Komponenten des Modells konnten problemlos durch die Student*innen auf die Kommunikation auf der Streaming-Plattform übertragen werden. Als Besonderheiten der Kommunikationssituation wurden die Anonymität des Empfängers und die Möglichkeit des Informationsaustausches über weite Distanzen bemerkt. Bei Betrachtung der Kommunikation zwischen der Gruppe Null und den beobachteten Kommiliton*innen im Nebenraum, wurde das tatsächliche Vorhandensein von Kommunikation angezweifelt, da kein Austausch von Informationen vorliege. Kommunikation müsse, laut einer Studentin, bewusst stattfinden.
Darauffolgend wurden die Gruppen im Seminarraum wieder zusammengeführt, wobei insbesondere die Gruppe Eins über ihre Empfindungen sprach. Es bestanden zunächst Unsicherheiten bei ihnen, was die Gruppe Null überhaupt gesehen habe. Die Gruppe Eins zeigte auf, dass sie bereits seit Beginn des Experimentes vermuteten, beobachtet worden zu sein. Anhand des gesehenen Beispiels einer kranken Frau, welche sich auf der Plattform zeigte, um offensichtlich Mitleid zu erhalten, diskutierten die Seminarteilnehmer*innen darüber, warum Menschen derartige Plattformen nutzen. Mögliche Gründe stellen laut den Student*innen Einsamkeit und Voyeurismus dar.
Des Weiteren wurde die Frage der Studentin nach der Legalität wieder aufgegriffen und diskutiert. In Abgrenzung zu der Kommunikation auf „YouNow“ wurde angemerkt, dass sich die User dort ganz bewusst präsentierten, während es bei der Gruppe Eins ungewollt geschehen sei. Dadurch hätte sich ein gewisses Unbehagen bei den Beobachter*innen eingestellt. Man einigte sich jedoch darauf, dass es sich in beiden Fällen um einen enormen Eingriff in die Privatsphäre handele.
Während des ersten Teils der Vermittlungssituation lassen sich also zwei große Erkenntnisprozesse festhalten: Während zunächst objektiv das kommunikative Verhältnis zwischen Betrachter*in und Betrachtetem besprochen und dabei eine fehlende Interaktion in der geschaffenen Situation festgestellt wurde, wandelte sich dies in einen Gedankenaustausch über die Legalität des unwissentlichen Beobachtetwerdens.
Über einen knappen Input zum Wirken Eva und Franco Mattes‘ wurde die Aufmerksamkeit auf ihr Werk No Fun (2010) gelenkt, welches unserem Experiment zugrunde lag. Dabei besprachen die Student*innen insbesondere die Glaubwürdigkeit der gezeigten Situation und die unbeholfene Rolle des/der Betrachters/Betrachterin eines solchen Werkes. Als weiteres Werkbeispiel wurde Emily’s Video vorgestellt, anhand dessen sich die Student*innen mit der Frage auseinandersetzten, warum Menschen freiwillig extreme Bilder betrachten und sich dabei filmen lassen. Nach Auflösung des Experimentes und der Betrachtung der beiden Werke hat sich der Begriff der Grenzüberschreitung als bedeutsam für das Seminar und somit als prägendes Merkmal für Kunst Eva und Franco Mattes herausgestellt. Die Student*innen stellten Bezüge zwischen der im praktischen Teil erfahrenen Überschreitung gesetzlicher und moralischer Normen und künstlerischen Strategie des Künstlerpaares her.
Literatur
Mattes, Eva/Mattes, Franco: ABOUT. URL: http://0100101110101101.org/about/ – Download vom: 26.02.2018.
Mattes, Eva/Mattes, Franco: Emily’s Video (2012). URL: http://0100101110101101.org/about/ – Download vom: 26.02.2018.
Peez, Georg: Einführung in die Kunstpädagogik. Stuttgart: Kohlhammer 2002, S.122.
Schroeder, Gudrun/Schroeder, Hugdietrich: Gruppenunterricht. Beitrag zu demokratischem Verhalten. Erfahrungen aus dem 1. bis 6. Schuljahr. Berlin: Colloquium Verlag Otto H. Hess 1980, S.67.
Quaranta, Domenico: Traveling by Telephone. In: Quaranta, Domenico (Hrsg.): Eva und Franco Mattes:100101110101101.org. Mailand: Charta 2009, S. 8-51.